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Francis Boyle
ist Professor für Völkerrecht an der University of
Illinois. Der Harvard-Absolvent verteidigte den Staat
Bosnien-Herzegowina vor dem Internationalen Gerichtshof in Den
Haag und berät unter anderem die Menschenrechtsorganisation
Amnesty International.
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SPIEGEL ONLINE: Verträge klingen immer gut. Aber brauchen wir nicht -
angesichts dieser neuen Dimension des Terrors - eine internationale Organisation
zu Bekämpfung des Terrorismus?
Boyle: Ich würde nicht von einer neuen Dimension sprechen. Dieses
Problem gibt es seit den sechziger Jahren. Neu ist nur die gross
e Zahl der Opfer
in den USA. Diese Zahl ist ohne Zweifel schrecklich. Aber das Völkerrecht kommt
mit solchen Anschlägen zurecht - vorausgesetzt die Regierungen stufen sie als
terroristische Aktionen ein. Wenn wir sie dagegen als Kriegsakt bezeichnen,
geben wir Kriminellen eine Würde, die ihnen normalerweise nicht zuteil würde.
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US-Präsident Bush am Tag der Anschläge:
"Eindeutig terroristische Akte" |
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SPIEGEL ONLINE: US-Präsident George W. Bush hat die Anschläge als
"Akt des Krieges" bezeichnet und nicht als Terror-Aktion.
Boyle: Das waren eindeutig terroristische Akte, wie sie im
amerikanischen Gesetz definiert sind.
SPIEGEL ONLINE: Was ist denn die Definition eines terroristischen
Aktes?
Boyle: Dabei handelt es sich um nichtstaatliche Akteure, die Gewalt
gegen zivile Objekte oder gegen Zivilisten ausüben mit der Absicht, die Bevölkerung
oder die Regierung in Angst zu versetzen.
SPIEGEL ONLINE: Aber im Völkerrecht gibt es eine solche Definition
nicht.
Boyle: Es gibt keine von allen Seiten akzeptierte Definition. Aber die
internationale Gemeinschaft hat sich darauf verständigt, dass terroristische
Anschläge illegal sind und als kriminelle Handlungen eingestuft werden sollen.
Neben der Montreal-Konvention gibt es zum Beispiel das "Übereinkommen zur
Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus" von 1999 und die "Konvention
gegen Geiselnahme" aus dem Jahr 1979.
SPIEGEL ONLINE: Warum hat Bush die Anschläge dann als kriegerischen
Akt gewertet?
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Oklahoma-Attentäter McVeigh: Rechtliche
Mittel, keine militärischen |
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Boyle: Auf der ersten Pressekonferenz nannte er sie noch terroristische
Akte. Dadurch unterlägen sie der Durchsetzung nationalen und internationalen
Rechts. So wurde auch der Anschlag in Oklahoma behandelt, den Timothy McVeigh
1995 verübte. Genauso eingestuft wurden auch die Anschläge auf die beiden US-
Botschaften in Kenia und Tansania. Aber nach Beratung mit Aussenminister Powell
entschied Bush, die Anschläge einen "Act of War" zu nennen und mit
militärischen Mitteln zu reagieren.
SPIEGEL ONLINE: Aber der amerikanische Kongress hat dem zugestimmt!
Boyle: Ja, leider. Nachdem Bush seine Rhetorik eskaliert und die
Anschläge mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Jahre 1941
gleichgesetzt hatte, schloss sich der Kongress dem Präsidenten an und
autorisierte ihn, militärische Mittel einzusetzen. Diese Resolution war sogar
schlimmer als die Tonkin Gulf Resolution, die Präsident Johnson 1964 erwirkte,
um den Krieg in Vietnam zu führen.
SPIEGEL ONLINE: Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat
Bush freie Hand gegeben.
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Uno-Sicherheitsrat: "Bush wollte eine ähnliche
Resolution wie sein Vater 1990" |
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Boyle: Das stimmt nicht. Die erste Resolution des Sicherheitsrats vom 12.
September sprach von einem terroristischen Anschlag. Es war nie die Rede von
einem bewaffneten Angriff. Erst dadurch wäre Artikel 51 der Uno-Charta zum
Tragen gekommen...
SPIEGEL ONLINE: ...der jedem Staat das Recht auf Selbstverteidigung
einräumt.
Boyle: Bush versuchte die Zustimmung für militärische Gewalt zu
bekommen und scheiterte. Er wollte vom Sicherheitsrat eine ähnliche Resolution
bekommen wie sein Vater im Golfkrieg. Bush senior wurde damals ermächtigt, zur
Vertreibung des Iraks aus Kuweit "alle notwendigen Mittel" zu benutzen.
Am 28. September scheiterte Bush erneut. Am 7. Oktober schickte dann der
amerikanische Botschafter bei der Uno, John Negroponte, einen Brief an den
Sicherheitsrat, der mitteilte, dass die USA ihr Recht auf Selbstverteidigung in
Anspruch nehmen. Aber dies ist ganz eindeutig kein Fall von Selbstverteidigung.
Nach den Regeln des Völkerrechts ist dieser Krieg illegal.
SPIEGEL ONLINE: Warum nicht?
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US-Aussenminister Powell: "Nicht einmal Indizien gegen Bin
Laden" |
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Boyle: Es gibt keinen Beweis dafür, das die Regierung in Afghanistan die
Anschläge in New York autorisierte oder billigte. Die Angriffe auf Afghanistan
sind bestenfalls Vergeltung.
SPIEGEL ONLINE: Aber es gibt doch wohl Beweise, dass Bin Laden die
Anschläge in Auftrag gegeben hat. Und er handelte schliess
lich von afghanischem
Territorium aus.
Boyle: Dafür gibt es keinen Beleg. Aussenminister Powell versprach
ein so genanntes "White Paper", in dem er die Beweise darlegen würde.
Bush untersagte ihm das. Aber in einem Interview mit der "New York
Times" sagte Powell, dass es gegen Bin Laden nicht einmal Indizien gebe.
Das ist ein Rechtsfall, der nicht einmal vor einem normalen Strafgericht
standhalten würde.
SPIEGEL ONLINE: Aber die Nato-Staaten haben die Unterrichtung durch
den Sondergesandten Taylor als Beweis akzeptiert.
Boyle: Nach Aussage eines westlichen Diplomaten legte Taylor in der
Sitzung des Nato-Rates keinerlei Beweise vor, dass Bin Laden die Anschläge
anordnete oder die Taliban davon wussten. Beweise waren auch nicht wichtig, weil
sich Bush ohnehin schon für den Krieg entschieden hatte.
SPIEGEL ONLINE: Aber spielt das denn eine Rolle? Der Nato-Rat
akzeptierte den US-Bericht und rief den Bündnisfall aus.
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Serbische Luftabwehr im Kosovo-Krieg: "Kein
Recht für die Bombardierungen" |
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Boyle: Die Nato tut stets, was die USA von ihr verlangen. Die Allianz
wurde gegründet, um Europa gegen einen Angriff der Sowjetunion zu verteidigen.
Mit dem Kollaps des Warschauer Paktes war die Existenzgrundlage der Nato
verschwunden. Bush senior brachte den Nato-Rat dazu, zwei neuen Legitimationsgründen
für die Nato zuzustimmen. Sie sollte einerseits als eine Art Polizei in
Osteuropa dienen. Andererseits sollte sie als Interventions-Truppe im Nahen
Osten fungieren, um Ölreserven zu schützen.
SPIEGEL ONLINE: Aber beim Washingtoner Gipfel 1999 schlossen die
Nato-Mitgliedsländer auch den Kampf gegen den Terrorismus in ihre Ziele ein.
Boyle: Der Nato-Vertrag wurde niemals um dieses Ziel erweitert. Der
Vertrag wurde ursprünglich auf Basis von Artikel 51 der Uno-Charta geschlossen.
Also kann der Bündnisfall nur eintreten im Falle eines bewaffneten Angriffs
eines Staates auf ein Nato-Mitglied. Deshalb hatte die Nato auch kein Recht,
Jugoslawien zu bombardieren, weil Serbien die Nato vorher nicht angegriffen
hatte.
SPIEGEL ONLINE: Wie hätte denn die US-Regierung reagieren sollen?
Boyle: Sie hätten auf der Basis der Montreal Sabotage Convention
Verhandlungen eröffnen sollen. Das passierte zum Beispiel mit Libyen im
Lockerbie-Fall. Vor dem 11. September hat die US-Regierung ja auch mit den
Taliban über eine Auslieferung Bin Ladens verhandelt wegen der Anschläge auf
die US-Botschaften in Afrika und wegen der inhaftierten Shelter-Now-Mitarbeiter.
Die Taliban waren damals bereit, Bin Laden an ein Islamisches Land auszuliefern
und auf Basis der Islamischen Scharia anzuklagen. Nach dem 11. September machten
sie weitere Konzessionen: Bin Laden könnte an ein neutrales Land ausgeliefert
werden. Sie bestanden nicht mehr länger auf einem Islamischen Gerichtsverfahren,
forderten aber Beweise. Die Taliban haben sich an die Anforderungen des
internationalen Rechts gehalten, Bush leider nicht.
SPIEGEL ONLINE: Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass die Angebote der
Taliban ernst gemeint waren?
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Taliban-Aussenminister Muttawakil: "Die
Taliban haben sich an internationales Recht gehalten" |
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Boyle: Wie gesagt: Vor dem 11. September haben die USA auch mit den
Taliban verhandelt. Und 1996 schickte Präsident Bill Clinton einen Diplomaten
nach Afghanistan um über die Anerkennung der Taliban-Regierung zu verhandeln.
SPIEGEL ONLINE: Wenn das Völkerrecht so eindeutig ist - warum
ignorieren die Vereinigten Staaten es dann?
Boyle: Ich glaube, dass sich die US-Regierung bereits vor dem 11.
September für einen Krieg gegen Afghanistan entschieden hatte.
SPIEGEL ONLINE: Aber mit welchem Ziel?
Boyle: Die Öl- und Erdgasreserven in Zentralasien sind die zweitgröss
ten
nach denen im Persischen Golf. Nach dem Kollaps der Sowjetunion nahm die US-Regierung
sofort diplomatische Beziehungen zu den zentralasiatischen Staaten auf.
Politiker wie der ehemalige Verteidigungsminister Caspar Weinberger sagten, dass
die Ölfelder Zentralasiens zum vitalen Interesse der Vereinigten Staaten gehören...
SPIEGEL ONLINE: ...und die amerikanische Ölgesellschaft Unocal
verhandelte mit den Taliban über eine Pipeline aus Zentralasien durch
Afghanistan nach Pakistan...
Boyle: Die US-Regierung wollte nicht, dass irgendeine Pipeline durch
Russland oder Iran laufen würde. Die billigste und einfachste Route läuft
durch Afghanistan. auss
erdem gibt es dort selbst auch Ölreserven. Öl und Gas
sind die wahren Interessen der US-Regierung, nicht Bin Laden.
Das Interview führte
Christoph
Schult.