Nicht nur, weil sie Juden sind
GASTKOMMENTAR VON JOHN BUNZL (Die Presse)
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Univ.-Doz. Dr. John Bunzl
ist Nahostspezialist des Österr. Inst. f. Internationale Politik (OIIP)
und Mit-Herausgeber des soeben erschienenen Buches „Zwischen Antisemitismus
und Islamophobie“ (VSA-Verlag).
Die Annahme, die Judäophobie im Nahen Osten sei eine Reinkarnation
des europäischen Antisemitismus, ist ein klassischer Fall von Projektion.
Israel ist nicht in, aber von Europa. Das Bewusstsein eines
europäisch-christlichen Antisemitismus, der im Holocaust kulminierte, kann
wohl als das entscheidendste emotionelle Element in europäischen Haltungen
zum Nahen Osten angesehen werden. Um den Einfluss dieser (und anderer)
emotioneller Elemente beurteilen zu können, halte ich den psychoanalytischen
Begriff der Projektion für besonders nützlich. Wir verstehen Daarunter die
Zuschreibung von eigenen Haltungen, Gefühlen und Erinnerungen an andere.
Dem möchte ich eine zweite Beobachtung hinzufügen: Nach meiner Erfahrung
haben Wissenschaftler, die sich mit europäischem Antisemitismus befassen,
häufig keine Ahnung vom Nahen Osten. Normalerweise übernehmen sie das
israelisch-zionistische Narrativ unhinterfragt. Umgekehrt müssen wir häufig
feststellen, dass Nahostexperten zu wenig Sensibilität für Phänomene des
Antisemitismus aufbringen. Die Annahme etwa, es handle sich bei der modernen
Judäophobie im Nahen Osten um eine Reinkarnation des europäischen
Antisemitismus, kann als grober methodologischer Fehler und klassischer Fall
von Projektion angesehen werden.
Selbst Europas Rechte hofiert Israel
Projektive Ansichten über Israel in Europa dürfen jedoch nicht auf dieses
Beispiel reduziert werden. Sie könnten, grob vereinfacht, in folgende
Kategorien eingeteilt werden: Israel ist schlecht, weil es jüdisch ist;
Israel ist gut, weil es europäische (westliche) Werte vertritt; Israel ist
schlecht, weil es westliche (europäische) Interessen vertritt; Israel ist
gut, weil es jüdisch ist.
Man hat die seit dem Beginn der 2. Intifada (2000) häufiger auftretenden
verbalen und manchmal physischen Attacken gegen Juden und jüdische
Einrichtungen in Europa als „Neuen Antisemitismus“ bezeichnet. Das Phänomen
ist insofern neu, als es im Kontext von Entwicklungen im Nahen Osten
verstanden wird. Aber handelt es sich um Antisemitismus? Haben wir es mit
der Kontinuität und/oder Verwandlung einer traditionellen Feindseligkeit zu
tun?
Diese Diagnose übersieht die Lage jüdischer Gemeinden in einem neuen Europa,
das sich als Antithese zu Nazismus und Holocaust versteht. Kein Staat, keine
relevante Partei in Europa vertritt ein antisemitisches Programm. Selbst
Rechtsparteien hofieren jüdische Gemeinden und Israel als (potenzielle)
Bündnispartner im Kampf gegen eine Islamische Gefahr. Juden gelten als
Europäer par excellence, Muslime nicht. Es gibt einen quasi-offiziellen
Philosemitismus, der sich in Gedenkstätten, Museen und Kultur manifestiert.
Jede dem Nahen Osten entspringende Feindseligkeit als antisemitisch zu
brandmarken kann auf eine unerwünschte Wirkung hinauslaufen: eine
Banalisierung und Trivialisierung des genuinen Antisemitismus. Sie kann auch
einer falschen oder tendenziösen Beurteilung der Feindseligkeit von Arabern
oder Muslimen entspringen. Es ist meist nicht der alte antisemitische Wahn
europäisch-christlicher Prägung, der Muslime im Allgemeinen und selbst die
wenigen Gewalttäter motiviert. Es handelt sich vielmehr um einen
bedauernswerten Nebeneffekt von jüngeren Ereignissen im Nahen Osten und
weltweit. Nicht-Europäern den alten Antisemitismus zu unterstellen kann im
Übrigen einem Entlastungswunsch dienen und entspricht den oben beschriebenen
Mechanismen der Projektion und Externalisierung.
Ein Staat des jüdischen Volkes
Um Strömungen unter Muslimen in Europa beurteilen zu können, muss der
globale Kontext, zum Beispiel die Rede vom Kampf der Kulturen,
berücksichtigt werden. 9/11 und andere „jihadistische“ Anschläge wurden
vorschnell „dem“ Islam zugeschrieben, sodass sich Muslime einem
Kollektivverdacht ausgesetzt sahen.
Eine Vertiefung des Dilemmas ist dem Umstand geschuldet, dass sich Israel
als Staat des jüdischen Volkes definiert. Die offiziellen jüdischen
Gemeinden in der Welt akzeptieren diese Definition – und verhalten sich
entsprechend. Es ist also nicht richtig zu behaupten, nur Antisemiten würden
Juden mit Israel identifizieren – auch wenn diese es mit anderen Absichten
tun.
Eine weitere Komplikation ergibt sich aus dem israelischen Bedürfnis, Kritik
und Widerstand zu delegitimieren. Dieses Bedürfnis ist so alt wie der
Palästina-Konflikt. Arabische Ablehnung der zionistischen Kolonisation
musste schon zuvor als grundloser Hass „erklärt“ werden. Obwohl Führer wie
Ben-Gurion oder Jabotinsky nach innen das Verhalten der palästinensischen
Araber für voraussehbar und rational hielten, „erklärten“ sie es nach aussen
als Projektion, indem das alte europäische Feindbild des Antisemitismus auf
die Araber übertragen wurde. Selbst heute noch wird stereotyp behauptet,
dass Siedler oder Soldaten nicht angegriffen werden, weil sie eine
Besatzungsmacht repräsentieren, sondern einfach, weil sie Juden sind.
Ein ähnlicher Mechanismus ist am Werk, wenn es gilt, europäische Kritik am
Verhalten des israelischen Staates zu delegitimieren. In einem Teufelskreis
wird die Diagnose, es handle sich um (neuen) Antisemitismus, benutzt, um das
ursprüngliche Anliegen des Zionismus zu begründen: Juden sollten Europa zu
Gunsten der „sicheren Heimstatt“ in Israel/Palästina verlassen.
Europäische Haltungen sollten demnach sorgfältig geprüft werden, bevor man
ein Urteil über deren Bedeutung und Charakter fällt. Zunächst gilt es zu
fragen: Wer sagt was und warum? Eine antisemitische Motivation ist
offensichtlich, wenn Israel angegriffen wird, „weil“ es jüdisch ist oder als
jüdisch gilt. Weiters wird man davon ausgehen können, dass Gleichsetzungen
zwischen Israelis und Nazis (besonders wenn sie von Deutschen oder
Österreichern vorgenommen werden) einem Entlastungswunsch dienen.
Projektion auch hier: Es gab nämlich keinen „Konflikt“ zwischen Nazis und
Juden. In Israel/Palästina haben wir es nicht mit einer Umsetzung von
genozidalen Wahnideen zu tun. Im Grunde kämpfen Israelis gegen Palästinenser
nicht deshalb, weil sie Araber sind; und Palästinenser kämpfen gegen
Israelis nicht deshalb, weil sie Juden sind. Wir haben es vielmehr mit einem
kolonialen Konflikt sui generis zu tun.
Die Dämonisierung des Gegners
Aber wegen der langen Dauer der Auseinandersetzung hat sich auf beiden
Seiten ein legitimatorischer Überbau herausgebildet. Und in diesen Prozess
gehen Stereotypen, Stigmata und Vorurteile ein. Sie alle dienen einem Zweck:
der weiteren Dämonisierung des Gegners. Hier finden wir im Übrigen den
wichtigsten Kontext für judenfeindliche oder den Holocaust leugnende
Statements von arabischen oder muslimischen Sprechern. Damit sollten jedoch
andere Elemente nicht ignoriert werden, wie importierter europäischer
Antisemitismus oder die Ausschlachtung von antijüdischen Passagen im Koran.
Die „Gleichsetzer“ ignorieren also den Charakter des Konflikts – und das
wohl nicht aus Sympathie für die Palästinenser: Zunächst ignorieren sie,
dass die Palästinenser indirekte Opfer der europäisch-christlichen
Verfolgung von und Gewalt gegen Juden wurden. Daher: keine Entlastung von
Schuld und Verantwortung. Weiters führen psychische Bedürfnisse zu einem
uneingestandenen Wunsch, die Palästinenser mögen die „Juden“ der Juden
werden. Daher wird israelische Politik gern mit Begriffen wie „Endlösung“,
„Deportation“ oder „Völkermord“ bedacht.
Leugnen ist keine Antwort
Während jede Dämonisierung vermieden werden sollte, erweist es sich
andererseits als kontraproduktiv, schwerwiegende, ja strukturelle
Verletzungen palästinensischer Rechte zu leugnen. Wir müssen einen legitimen
Diskurs entwickeln, der sowohl die Realität in Israel/Palästina reflektiert,
als auch eine Perspektive von Gleichheit und Gerechtigkeit für beide Seiten
einschliesst und historische Verantwortlichkeiten ernst nimmt. Ein solcher
Diskurs wäre von Mechanismen der Projektion zu unterscheiden, die das Drama
um Israel/Palästina benützen, um alten Hass zu schüren oder neuen
Identitäts-Konstrukten zu dienen. Solche Muster perpetuieren nur
gegenseitige Stigmatisierungen, Gewalt und Tragödien.
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