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Palästina    Gebiete  

Tagwerk für den Mythos einer Demokratie

von Kristen Ess  | 

 ZNet 22.07.2003 http://www.zmag.de/article/article.php?id=736  |  Kristen Ess ist freie Journalistin; sie lebt u. arbeitet in der Westbank u. in Gaza  | Kontakt: kristeness@hotmail.com

 

 

Mittlerer Gazastreifen: Ein alter Mann in weiss sitzt auf einer Holzkiste und beobachtet, wie ein israelischer Bulldozerfahrer sein Land zerstört. Das sattgrüne Baumlaub wird zerdrückt, verfängt sich in der Schaufel. Die Stämme werden dadurch noch mehr zerfleischt. Der Alte sieht zu. Die Zerstörung dauert Stunden, und er kann nichts tun. Es herrscht ‘WaffenRuuhhe’, aber die israelische Regierung schickt weiter ihre Besatzungssoldaten, um Bäume und Feldfrüchte niederzumachen. Indem sie Ödland schaffen, unterstreichen die Soldaten den Mythos vom Land ohne Volk - als ob hier nie palästinensische Familien gelebt hätten. Diese Praxis zerstört nicht nur die Existenz der Familien und Gemeinschaften, sie schafft auch palästinensische Abhängigkeit von israelischen Agrarerzeugnissen. Der palästinensische Handel ist weiterhin (fast) am toten Punkt. Die Checkpoints u. Abriegelungen sorgen dafür, dass Palästinenser kaum in der Lage sind, ihre Waren selbst zu erzeugen bzw. arbeiten zu gehen, um Geld für den Wiederaufbau der zerstörten Fabriken, Werkstätten u. Ladengeschäften zu haben. Dadurch wird ein Ziel der Okkupation erreicht, nämlich Abhängigkeit von israelischen Waren u. israelischen Arbeitsplätzen zu schaffen - sodass die Lebensfähigkeit eines palästinensischen Staats zusehends am seidenen Faden hängt, ganz gleich, ob die Israelische Besatzungsarmee (IOF) nun in der Westbank u. im Gazastreifen verbleibt oder nicht. Viele palästinensischen Läden sind voll mit israelischen Waren. Häufig werden bei israelischen Einmärschen auch Geschäfte, Fabriken und die Agrarproduktion angegriffen. Die israelische Regierung rechtfertigt dies mit der ‘Sicherheitslage’ - oder, wie es ein Mann in Gaza-Stadt beim Anblick seines zerstörten Druckereigeschäfts

ausdrückt: “Auch wenn wir Seife produzieren, sagen sie, wir machen Bomben”.

Die Okkupation hat verschiedene Gesichter. Es geht nicht nur um die Checkpoint-Soldaten, die mit Gewehren auf Kinder zielen oder um Raketen, die aus dem Himmel auf dichtbesiedeltes Wohngebiet abgeschossen werden. Die Okkupation verfolgt ihre Politik der ‘ethnischen Vertreibung’ nicht zuletzt dadurch, dass sie zunehmende Abhängigkeit schafft. Wenn die Israelis die Palästinenser schon nicht loswerden können, so können sie sie doch in diesem ‘staatenlosen’ Zustand halten, unter dem die Palästinenser innerhalb der Grenzen von 1948 leiden. Mitten in der Hitze des Sommers greift die IOF

(weiter) die palästinensische Wasserversorgung an. Das meiste Wasser wird jetzt zu den israelischen Siedlungen bzw. in die Negev-Wüste umgeleitet. Heute reist der palästinensische Premierminister Abbas nach Washington, um sich mit Bush zu treffen. Und gleichzeitig verhaftet die IOF 4 Palästinenser aus dem Flüchtlingslager Balata in Nablus, bringt sie ins Gefängnis.

Die Besatzer sind sehr fleissig. Gleich in der ersten Woche der bilateralen ‘WaffenRuuhhe’ (7. - 13. Juli) verstiessen sie mindestens 23 Mal gegen diese: Die IOF schloss den Checkpoint von Tufah, damit diese Palästinenser ganz sicher nicht mehr nach Hause kommen. Sie schoss in die Stadt Rafah u. verletzte einen 16-jährigen u. einen 17-jährigen. Sie schoss Granaten auf Häuser in Khan Younis ab. Sie schnappte sich 4 Personen aus dem Flüchtlingslager Jabaliya (viele weitere aus dem gesamten besetzten

Westbank- u. Gazagebiet wurden ins Gefängnis verschleppt). Sie schoss nahe Deir al Belah 2 Polizisten der Palästinensischen Autonomiebehörde an. Sie schoss erneut auf Rafah. Sie führte 6 Abriegelungen durch. Sie baute 2 neue ‘Wachtürme’, das heisst, Heckenschützenposten. Sie riegelte Strassen nach Bethlehem mit Zement und Sandsäcken ab (übrigens, im Gegensatz zu dem, was über das vielgepriesene Gaza-Bethlehem-Abkommen Israels bekannt ist, hält sich die IOF noch immer in Bethlehem auf. Von ihrem Heckenschützenposten bei ‘Rachels Grab’ zielt die IOF mit automatischen Waffen auf das Flüchtlingslager Aida). Und nachdem die Woche um war - siehe Statistik - ging es weiter: Die IOF tötete mehrere Palästinenser in der nördlichen Westbank. Viele andere wurden ohne Anklage in israelische Gefängnisse verschleppt. Die massive Belagerung Hebrons wurde weiter aufrechterhalten. Die IOF marschierte in Nablus u. in die Region dschenin ein, ihre F-16- Bomber flogen über Bethlehem. Dies nur einige Beispiele für das, was Israel unter ‘WaffenRuuhhe’ versteht.

Hamas und dschihad stimmten der WaffenRuuhhe zu. Okay, aber lässt die Israelische Besatzungsarmee ihre Waffen Ruuhhen? Nein. Hat sie ihre Praxis der Palästinenser-Demütigung an Checkpoints eingestellt bzw. die Praxis, Checkpoints ganz geschlossen zu halten? Keineswegs. Noch immer ist es den meisten Palästinensern verwehrt, sich von einer Palästinenserstadt zur nächsten zu bewegen. Hat die IOF ihre Praxis der Häuserdemolierungen eingestellt? Nein. Wurde der Bau weiterer (israelischer) Siedlungen eingestellt? Nein. Ich brauche nur aus dem Fenster zu schauen, schon sehe ich (israelische) Siedlungsbauaktivitäten. Oder hat man etwa den Bau der hohen Apartheid-Mauer in Westbank u. im südlichem Gazastreifen eingestellt? Auch das nicht. Letzte Woche setzte die IOF ihren Einmarsch in die dschenin- Region fort. Umliegende Dörfer, beispielsweise Tobas, wurden abgeriegelt. Ein Junge (aus der Region) sprang aus dem Fenster und rannte trotz Ausgangssperre, sich unter den israelischen Kugeln wegduckend, zur Moschee. Scharon und die IOF machen immer weiter - sie erzeugen Terror, wie er in

Kinder- Alpträumen vorkommt.

Indem man ständig darauf hinweist, dschihad u. Hamas hätten einer ‘WaffenRuuhhe’ zugestimmt, verzerrt man dadurch die Realitäten nicht noch mehr? Man erzeugt eine Dichotomie, die suggeriert, dschihad und Hamas verfügten über annähernd die gleichen Voraussetzungen hinsichtlich Waffen, Feuerkraft, Unterstützung u. Mannschaftsstärke wie die Israelische Armee. Fast jeder Israeli (bzw. Israelin) muss in der IOF Dienst leisten. Ausnahmen werden kaum geduldet. Pro Tag erhält Israel von den USA eine Summe von $12 Millionen zur Verfügung gestellt. Und es ist zu hoffen, die internationale Gemeinschaft erkennt endlich, dschihad u. Hamas haben gar nicht die Macht, irgendschemanden zwangsweise zu rekrutieren. Und die Frage, ob Hamas u. dschihad der WaffenRuuhhe zustimmten (sie haben), lässt einen zweiten, entscheidenden Punkt unberücksichtigt: Schon davor gab es WaffenRuuhhen. Aber egal, ob WaffenRuuhhe oder nicht, egal, ob Realität oder Alptraum, an der Tatsache der Besatzung hat sich nichts geändert. Über die Spielregeln bestimmt nunmal die Regierung Scharon, und so wird die IOF- Schreckensherrschaft über Palästina sich weiter fortsetzen.

Möglich, dass die Scharon-Regierung derzeit - seit Inkrafttreten der ‘WaffenRuuhhe’ -, ein wenig unter Druck gerät, sich an ein oder zwei internationale Gesetze zu halten. Premierminister Abbas sagt, er hoffe, Bush werde helfen, Scharon vom Bau weiterer Siedlungen u. der Apartheid- Mauer abzuhalten. Die Mauer verwandelt palästinensische Städte - siehe Qalqilya - in Gefängnisse mit einer einzigen Zu- u. Ausfahrt für Menschen u. Waren; dieser enge Korridor wird durch israelische Soldaten kontrolliert. Am Sonntag trafen PM Abbas, der palästinensische Sicherheitschef Dahlan u. Scharon zusammen. Das Treffen sei “nicht gut verlaufen”, so Dahlan. Mit Gesprächen über Themen wie politische Gefangene (die meisten dieser Palästinenser werden ohne Anklage festgehalten), israelische Siedlungen (alle illegal gemäss internationalem Recht) und das palästinensische Rückkehrrecht (gemäss UN-Resolution 194 deren kollektives u. individuelles Recht) versucht Scharon nur abzulenken. Seien wir wachsam, sonst wird der Roadmap-Dialog von der Realität abheben. Themen, über die geredet werden sollte, sind: Warum kommt die israelische Regierung damit durch, 6 000 politische (palästinensische) Gefangene ohne Anklage festzuhalten? Und die Frage ist nicht, kriecht PM Abbas/Abu-Mazen genug zu Kreuze, um wenigstens 400 der insgesamt fast 8 000 Gefangenen freizubekommen. Israel ist weiter bemüht, der Welt die Wahrheit zu verhehlen. Welche Strafe wird wohl den britischen Premier Tony Blair erwarten? Anlässlich Scharons jüngstem Grossbritannien-Besuch hatte Blair erklärt, er werde der Forderung Scharons, jeden Kontakt zum palästinensischen Präsidenten Arafat abzubrechen, nicht nachkommen. Als sich Scharon vor einiger Zeit weigerte, weiter mit Arafat zu sprechen, hatten ihm die Amerikaner ganz selbstverständlich - im Namen der ‘Demokratie’ - einen neuen Kandidaten herausgepickt, den jetzigen Premier Abbas. Arafat ganz zu entmachten, wäre etwas zu offensichtlich gewesen, also nahm man ihm einfach die Macht und übertrug sie einem andern. Wir sind in der Zwickmühle. Es ist immer das Gleiche. Vom neuen PM Abbas erwarten Israel und die USA - im Namen der Roadmap - noch miesere Verrenkungen, als sie sich Arafat in Oslo geleistet hat. Man zwingt Abbas, über Dinge zu verhandeln, die längst verhandelt sind - nur, Israel hat sich nicht daran gehalten. Scharon fordert von Abbas, das Rückkehrrecht fallenzulassen - das aber in der UN-Resolution 194 verankert ist. Es ist sowohl kollektives als auch individuelles Recht jedes Palästinensers. Darüber jetzt zu verhandeln, verbietet sich hinsichtlich jeder Gesetzlichkeit, Moral und jedes internationalen (Übereinkommens). Eine weitere Forderung Scharons an Abbas: das ‘Palestine Satellite Television’ darf nicht mehr über IOF-Angriffe auf Palästinenser berichten. Neulich sendete die (britische) BBC eine Dokumentation über Israel und seine Nuklear-Kapazitäten. Das israelische GPO (Regierungspressestelle) reagierte, indem es der BBC ein Presseverbot (für Israel) erteilte. Bei seinem jüngsten Besuch in England weigerte sich Scharon sogar, BBC-Reporter zu seinen Pressekonferenzen zuzulassen. Das Tagwerk der Demokratie.

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