Über
die vier Rechtsschulen und die Notwendigkeit, einer von ihnen zu folgen.
Abd al-Hakim Murad (Aus
dem Englischen übersetzt von Abd al-Hafidh Wentzel )
Vorbemerkung
des Übersetzers (Abd al-Hafidh Wentzel):
Die gröss
te Errungenschaft der Ummah im Verlauf des vergangenen Jahrtausends
ist zweifelsohne ihr innerer geistiger Zusammenhalt gewesen. Vom fünften
Jahrhundert nach der Hijra fast bis in unsere Tage und trotz des äusserlichen
Dramas des Aufeinanderprallens von Dynastien haben die Muslime der Ahl
as-Sunnat wal-Jama'at untereinander beinahe ausnahmslos eine Haltung von
religiösem Respekt und Brüderlichkeit bewahrt. Es ist eine augenfällige
Tatsache, dass sie innerhalb dieser langen, in vielerlei Hinsicht äusserst
schwierigen Periode so gut wie nicht von religiösen Kriegen, UnRuuhhen oder
Verfolgungen gespalten wurden.
Die Geschichte religiöser Bewegungen legt nahe, dass dies ein
auss
ergewöhnliches Ergebnis ist. Die gängige soziologische Ansicht, wie sie
von Max Weber und seinen Schülern vertreten wird, ist, dass Religionen sich
einer anfänglichen Phase von Einheit erfreuen und dann in eine zunehmend
heftigere Zersplitterung, angeführt von rivalisierenden Hierarchien, stürzen.
Das Christentum hat dafür sicher das deutlichste Beispiel abgegeben, doch
könnte man viele andere aufzählen, einschliess
lich säkularer
"Glaubensbekenntnisse" wie dem Marxismus. Auf den ersten Blick ist
die
Fähigkeit des Islam, dieses Schicksal zu vermeiden, erstaunlich und bedarf
sorgfältiger Analyse.
Natürlich gibt es eine einfache und direkte religiöse Erklärung. Islam ist
die letzte Religion, sozusagen "der letzte Bus nach Hause", und
geniess
t als
solche göttlichen Schutz vor endgültigen Formen des Verfalls. Es trifft zu,
dass das, was 'abdul Wadud Schalabi als spirituelle Entropie
(Nichtumkehrbarkeit) bezeichnet hat, seit der Einführung des Islam am Werke
ist, eine Tatsache, die durch eine Reihe von Hadiithen wohlbelegt ist.
Nichtsdestotrotz hat die Vorsehung die Ummah nicht vernachlässigt. Frühere
Religionen rutschen langsam oder von Schmerzen begleitet ab in Zersplitterung
und Bedeutungslosigkeit; während die Islamische Frömmigkeit, wenngleich von
schwindender Qualität, Mechanismen mitbekommen hat, die ihr erlauben, einen
Grossteil des Sinnes für Einheit zu bewahren, dem in ihren glorreichen Tagen
so gross
e Bedeutung zugemessen wurde.
Wohin auch immer die grotesken Darbietungen der Amire und Politiker führen
mögen, die Bruderschaft der Gläubigen, eine Realität in der
Anfangsgeschichte
des Christentums und einiger anderer Religionen, besteht auch nach
vierzehnhundert Jahren weiter als zwingendes Prinzip für die meisten Anhänger
der letzten und definitiven Gemeinschaft der Offenbarung im Islam. Der Grund
ist einfach und unwiderlegbar: Gott hat uns diese Religion als Sein letztes
Wort gegeben, und deshalb muss sie weiterbestehen, unangetastet in ihren
Grundlagen des Tauhid, Gottesdienstes und Ethik, bis zu den Letzten Tagen.
Eine solche Erklärung besitzt offenkundig Vorteile. Doch bleibt darüber
hinaus eine Reihe schmerzlicher Ausnahmen aus der frühesten Phase der
Geschichte erklärungsbedürftig. Der Prophet selbst ? möge Allah
ihm Segen
und
Frieden schenken ? hatte seinen Gefährten ? möge Allah
mit ihnen
zufrieden
sein ? in einem von Imam Tirmidhi überlieferten hadiith mitgeteilt: "Wer
immer
von euch mich überleben wird, wird einen riesigen Disput sehen" .
Dies ist, genau wie der Prophet, Allahs Segen und Friede über ihm, es
vorhergesagt hatte, eingetreten. Die Spaltungen am Anfang: Die schreckliche
Revolte gegen 'Uthman, möge Allah
mit ihm zufrieden sein, der Zusammenstoss
zwischen 'ali und Mu'awiyya, möge Allah
mit ihnen beiden zufrieden sein, die
blutige Abspaltung der Kharijjiten ? all dies trieb, fast von Anbeginn, das
Messer der Zwietracht in den Körper der muslimischen Gemeinschaft. Nur die
inhärente geistige Klarheit und Liebe zur Einheit unter den Gelehrten der
Ummah konnte ? mithilfe göttlicher Intervention ? die frühen Zuckungen des
Spaltertums besiegen und schuf eine starke und harmonische sunnitische
Mehrheit, die zumindest auf der rein religiösen Ebene neunzig Prozent der
Ummah für neunzig Prozent ihrer Geschichte geeint hat.
Das In-Erscheinung-Treten der sunnitischen Orthodoxie
Irgendwann im vierten und fünften Jahrhundert des Islam ereignete sich etwas
historisch höchst Bedeutsames. Das Sunnitentum trat als ein detailliertes
System in Erscheinung, das so gut ausgearbeitet war und so offensichtlich der
Weg der gross
en Mehrheit der 'Ulema war, dass die Anziehungskraft
rivalisierender Bewegungen rapide schwand.
Der sunnitische Islam, in der Mitte zwischen den beiden Extremen des
egalitären Kharijjitentums einerseits und dem hierarchischen Schi'Itentum
andererseits, war lange Zeit mit Diskussionen über sein eigenes Konzept von
Autorität beschäftigt gewesen. Für die Sunniten war Autorität
definitionsgemäss im Qur'an und in der Sunna festgelegt. Jedoch
angesichts
der enormen Anzahl von Hadiithen, die in verschiedenen Formen und
Überlieferungen nach der Migration der Gefährten und Nachfolger über die
Länge und Breite der Islamischen Welt verstreut waren, stellte sich heraus,
dass die Sunna zuweilen schwer zu deuten war. Selbst nachdem die zuverlässigen
Hadiithe aus dieser Anzahl von insgesamt einigen hunderttausend
hadiith-Überlieferungen herausgesiebt worden waren, blieben einige Hadiithe,
die zueinander oder sogar zu Versen des Qur'an im Widerspruch zu stehen
schienen. Es war offensichtlich, dass simplizistische Lösungen wie die der
Kharijjiten, nämlich einen kleinen Corpus von Hadiithen zu etablieren und
Lehre und Gesetz direkt daraus abzuleiten, nicht funktionieren konnten. Die
inneren Widersprüche waren zu zahlreich, und die darauf gestützten Deutungen
waren zu komplex, um die Qadis in die Lage zu versetzen, Urteile zu fällen,
indem sie einfach den Qur'an und hadiith-Sammlungen an der entsprechenden
Seite aufschlugen.
Prinzipien (usul) zur Lösung textlicher Widersprüche
Die Gründe, die den Fällen offenbar einander widersprechender offenbarter
Texte zugrunde lagen, wurden von den frühen 'Ulema genauestens untersucht,
häufig im Verlauf fortdauernder Debatten zwischen den brilliantesten Denkern,
ausgestattet mit den perfektesten photografischen Gedächtnissen. Ein Grossteil
der Wissenschaft der Islamischen Jurisprudenz (usul al-figh) wurde
entwickelt, um zur Bewältigung derartiger Widersprüche feststehende
Mechanismen zu schaffen, die getreue Übereinstimmung mit dem grundlegenden
Ethos des Islam gewährleisteten. Der Begriff Ta'arrud al-adilla
("Widersprüchlichkeit der Beweisquellen") ist allen Studenten
Islamischer
Jurisprudenz als eines der am meisten Sorgfalt verlangenden und komplexesten
aller muslimischen Gesetzeskonzepte bekannt. Frühe Gelehrte wie Ibn Qutayba
sahen sich veranlasst, diesem Thema ganze Bücher zu widmen.
Die 'Ulema der grundlegenden Prinzipien (usul) erkannten als ihre
Ausgangsvoraussetzung an, dass Widersprüche zwischen den offenbarten Texten
nichts weiter als Widersprüche in der Deutung und keinesfalls Ungereimtheiten
in der Botschaft des Gesetzgebers, wie sie vom Propheten, Allahs Segen und
Friede sei über ihm, übermittelt worden war, sein konnten. Die Botschaft des
Islam war vor seinem Dahinscheiden vollkommen überbracht worden; und die
Aufgabe der späteren Gelehrten war ausschliess
lich die Deutung und
keinesfalls
die "Überarbeitung" derselben.
In diesem Bewusstsein beginnt der Islamische Gelehrte, wenn er einen
problematischen Text untersucht, mit einer Reihe von akademischen
Voruntersuchungen und Lösungsmethoden. Das von den frühen 'Ulema entwickelte
System besteht darin, dass der Gelehrte, wenn sich zwei Qur'an- oder
Hadiithtexte zu widersprechen scheinen, zuerst eine sprachliche Analyse der
Texte vornimmt, um festzustellen, ob der Widerspruch einem Fehler in der
Interpretation des Arabischen entspringt. Wenn der Widerspruch dadurch nicht
gelöst werden kann, muss er versuchen, anhand einer Reihe von text-, rechts-
und geschichtsspezifischen Techniken festzustellen, ob einer der beiden
Texte Gegenstand von takhsis, das heisst: nur bestimmte Umstände betreffend,
ist und deshalb eine spezielle Ausnahme von dem in dem anderen Text zum
Ausdruck gebrachten allgemeineren Prinzip darstellt. Darüber hinaus muss der
Jurist den textspezifischen Status des Berichts in Betracht ziehen, indem er
sich das Prinzip ins Gedächtnis ruft, dass ein Qur'anvers ein hadiith aufhebt,
das nur mit einer Isnad (die Art von hadiith, die als Ahad bekannt ist)
überliefert ist, genau wie dies ein hadiith, das von vielen Isnad (mutawatir
oder maschhur) überliefert ist, tut. Sieht der Jurist, nach Anwendung all
dieser Mechanismen, dass der Widerspruch immer noch weiterbesteht, muss er
untersuchen, ob einer der beiden Texte Gegenstand einer förmlichen Aufhebung
(Abrogation, arab.: naskh) durch den anderen ist.
Das Prinzip der Abrogation (Naskh )
Das Prinzip des Naskh ist ein Beispiel dafür, wie die Sunni-'Ulema bei der
Behandlung des heiklen Themas Ta'arrud al-adilla ihren Ansatz auf eine Art
von Umgang mit Textaussagen gründeten, die schon viele Male zu Lebzeiten des
Propheten, Allah
segne ihn und schenke ihm Frieden, Anwendung gefunden hatte.
Die Gefährten wussten durch 'Ijma, dass während der Jahre, in denen der
Prophet
seine Botschaft überbrachte, in denen er sie lehrte und schulte und sie von
der Wildheit des Heidentums zum nüchternen und barmherzigen Weg des
Monotheismus führte, diese Lehre Gegenstand göttlicher Formung entsprechend
ihrem Entwicklungstempo gewesen war. Der wohl bekannteste Fall davon war das
stufenweise Verbot des Weines, dessen Genuss in einem frühen Qur'anvers als
unbeliebt, in einem späteren als verwerflich und schliess
lich als verboten
bezeichnet wurde. Ein anderes, ein noch grundlegenderes Prinzip berührendes
Beispiel ist das des rituellen Gebetes (ss
alaaht), welches für die frühe Ummah
nur zweimal täglich Pflicht gewesen war, nach der Mi'raj jedoch fünfmal
täglich zur Pflicht wurde. Mut'a (Heirat auf Zeit) war in den frühen Tagen
des Islam erlaubt gewesen, wurde aber schliess
lich verboten, nachdem die
sozialen Bedingungen sich entwickelt, der Respekt für Frauen zugenommen und
die Moral sich gefestigt hatten. Es gibt ein ganze Reihe solcher Fälle, die
meisten lassen sich auf die Jahre unmittelbar nach der Hijra datieren, in
denen sich die Situation der jungen Ummah radikal wandelte.
Es existieren zwei Formen von Naskh: explizit (sarih) oder implizit (dimni).
Die erste ist leicht zu erkennen, weil sie Texte betrifft, die selbst zum
Ausdruck bringen, dass eine frühere Regelung geändert wird. Zum Beispiel
gibt
es im Qur'an einen Vers (2:142), der den Muslimen befiehlt, sich beim Gebet
der Ka'aba zuzuwenden statt nach Jerusalem. In der Hadiithliteratur findet man
diesen Fall noch viel häufiger. Zum Beispiel lesen wir in einem von Imam
Muslim überlieferten hadiith: "Ich hatte euch verboten, Gräber zu
besuchen;
doch nun sollt ihr sie besuchen." Als Kommentar hierzu erklären die
'Ulema,
der hadiith, dass in der Frühzeit des Islam, als die Praktiken der
Götzenanbetung noch frisch im Gedächtnis der Menschen waren, das Besuchen
von Gräbern in der Befürchtung verboten worden war, dass einige neue Muslime
dort Schirk begehen könnten. Nachdem aber die Muslime in ihrem Verständnis
von Tauhid gestärkt und dieser in ihrem Bewusstsein und ihren Herzen fest
verwurzelt war, wurde dieses Verbot als nicht länger notwendig aufgegeben, so
dass es heute empfohlene Praxis für die Muslime ist, Gräber zu besuchen, um
für die Verstorbenen zu beten und ans Jenseits erinnert zu werden.
Die andere Form des Naskh ist subtiler und forderte den Scharfsinn der frühen
'Ulema oft bis an ihre Grenzen heraus. Dabei handelt es sich um Texte, die
frühere aufheben oder modifizieren, ohne im Text selbst darzulegen, dass dies
der Fall ist. Die 'Ulema haben dafür eine Vielzahl von Beispielen
gegeben,
einschliess
lich der zwei Verse in Surat al-Baqara, die unterschiedliche
Anweisungen bezüglich der Zeitspanne angeben, während derer Witwen (nach dem
Tode ihres Mannes) aus dem Nachlass unterhaltsberechtigt sind (2:240 und 234).
Und in der Hadiithliteratur gibt es das Fallbeispiel, in dem der Prophet,
Allahs Segen und Friede sei über ihm, als er von Krankheit gezwungen im
Sitzen betete, die Gefährten aufforderte, ebenfalls im Sitzen hinter ihm zu
beten. Dieses hadiith wird von Imam Muslim überliefert. Und doch finden wir
ein anderes hadiith, ebenfalls bei Imam Muslim, welches einen Fall belegt, in
dem die Gefährten stehend hinter dem Propheten, der Segen Allahs und Sein
Friede seien auf ihm, beteten, während dieser das Gebet sitzend verrichtete.
Der offenbare Widerspruch wurde durch eine sorgfältige Analyse der
Chronologie gelöst, welche zeigte, dass der zuletzt genannte Fall nach dem
erstgenannten stattfand und deshalb darüber Vorrang geniesst. Solches wird im
figh der gross
en Gelehrten in passender Weise gewürdigt.
Die Techniken zur Identifizierung von Naskh haben die 'Ulema in die Lage
versetzt, den gröss
ten Teil der erkannten Fälle von ta'arrud al-adilla zu
lösen. Sie verlangen nicht nur umfassende und detaillierte Kenntnisse der
verschiedenen hadiith-Wissenschaften, sondern ebenso viel Wissen in den
Bereichen Geschichte, Siirahh, bezüglich der von den Gefährten und anderen
Gelehrten vertretenen Ansichten und der Umstände bei der Entstehung und
Exegese der betreffenden Hadiithe. In manchen Fällen sahen sich
hadiith-Gelehrte veranlasst, von einem Ende der Islamischen Welt zum anderen zu
reisen, um in den Besitz der notwendigen Informationen ein einziges hadiith
betreffend zu gelangen.
In Fällen, in denen trotz all dieser Bemühungen eine Abrogation nicht
nachzuweisen ist, sahen die 'Ulema der Salaf weitere Untersuchungen als nötig
an. Von Bedeutung ist dabei besonders die Analyse des Matn (der überlieferte
Text im Gegensatz zur Isnad des hadiith). "Klare" (sarih)
Feststellungen
geniessen Vorrang gegenüber "indirekten" (kinaya), und
"definitive" (muhkam)
Aussagen wird der Vorrang vor zweifelhafteren Kategorien wie
"interpretiert"
(mufassar), "obskur" (khafi) und "problematisch"
(muschkil) gegeben. Es kann
sich auch als notwendig erweisen, die Position der Überlieferer von einander
widersprechenden Hadiithen genauer zu betrachten, um dem Bericht desjenigen
den Vorzug zu geben, der direkter beteiligt war.
Ein berühmtes Beispiel dafür ist das hadiith, überliefert von Maymuna, möge
Allah
mit ihr zufrieden sein, das besagt, dass der Prophet, Allahs Segen und
Friede sei über ihm, sich nicht im Weihezustand (Ihram) für die Pilgerfahrt
befand, als er sie heiratete. Weil ihr Bericht der einer Augenzeugin war,
wurde ihrem hadiith Vorrang vor dem dazu im Widerspruch stehenden des Ibn
'abbas, möge Allah
mit ihm zufrieden sein, gegeben, welches mit einer ähnlich
zuverlässigen Isnad besagt, der Prophet, der Segen Allahs und Sein Friede sei
auf ihm, sei zu jenem Zeitpunkt tatsächlich im Zustand des Ihram gewesen.
Es gibt noch eine Vielzahl weiterer Regeln wie beispielsweise die Aussage:
"Verbot geht vor Erlaubnis". Ebenso können Widersprüche zwischen
Hadiithen
gelöst werden, indem man auf die Fatwa eines der Gefährten, möge Allah
mit
ihnen zufrieden sein, zurückgreift, nachdem man sich vergewissert hat, dass
alle relevanten Fatwas verglichen und berücksichtigt wurden. schliess
lich mag
man Qiyas (Analogie) anwenden. Ein Beispiel dafür sind die vielfältigen
Berichte über das Gebet bei Sonnenfinsternis (ss
alaaht ul-khusuf), die
verschiedene Anzahl von Beugungen und Niederwerfungen spezifizieren. Nach
genauester Untersuchung der Berichte haben die 'Ulema, nachdem alle oben
erwähnten Mechanismen keine Lösung der Widersprüche gebracht hatten, den
Analogieschluss angewandt, indem sie schlossen, dass, da das fragliche Gebet
immer noch als ss
alaaht bezeichnet wird, die übliche Form von ss
alaaht
eingehalten werden solle, nämlich eine Beugung und zwei Niederwerfungen. Die
übrigen Hadiithe sollen nicht mehr in Betracht gezogen werden.
Imam Schafi'Is Methode zur Konflikt-Lösung bei Quellentexten
Diese sorgfältige Artikulation der Methoden zur Lösung von Widersprüchen
bei
Quellentexten ? so lebenswichtig für die exakte Ableitung der Schar'Iiah aus
den offenbarten Quellen ? verdanken wir in erster Linie dem Schaffen des Imam
Schafi'I. Konfrontiert mit der Verwirrung und der Uneinigkeit seiner
zeitgenössischen Juristen und entschlossen, eine schlüssige Methodologie
festzulegen, die die Etablierung eines figh ermöglichte, in dem die Gefahr
von Fehlern so weit wie menschenmöglich ausgeschlossen war, schrieb Schafi'I
sein brillantes Risala (Abhandlung der Islamischen Rechtslehre). Seine Ideen
wurden in unterschiedlicher Art und Weise von Juristen der wichtigsten
anderen Gesetzesschulen übernommen und sind heute grundlegender Bestandteil
bei der formellen Anwendung der Schar'Iiah.
Schafi'Is System zur Vermeidung von Fehlern bei der Ableitung von Islamischen
Regeln aus der Vielzahl der Beweisquellen wurde bekannt als Usul al-figh (die
"Wurzeln des figh"). Ebenso wie die übrigen formalen akademischen
Wissenschaftszweige des Islam war dies keine Neuerung im negativen Sinne,
sondern ein Herausarbeiten von Prinzipien, die bereits zur Zeit der frühesten
Muslime erkennbar waren. Im Laufe der Zeit kodifizierte jede der gross
en
Rechtsschulen ihre eigene Form dieser "Wurzeln", die in manchen Fällen
auseinanderstrebende "Zweige" hervorbrachten (d. h. unterschiedliche
praktische Regelungen). Doch wenn auch die Debatten, die von diesen
Abweichungen ausgelöst wurden, gelegentlich recht energisch geführt wurden,
waren sie bedeutungslos verglichen mit den gross
en sektiererischen und das
Gesetz betreffenden Auseinandersetzungen, die während der ersten zwei
Jahrhunderte des Islam stattgefunden hatten, bevor die Wissenschaft der Usul
al-figh dieser chaotischen Uneinigkeit ein Ende machte.
Es bedarf kaum der Erwähnung, dass, obwohl die vier Imame Abu Hanifa, Malik
ibn Anas, Asch-Schafi'I und Ibn Hanbal als Gründer dieser vier gross
en
Rechtsschulen betrachtet werden, die wir, nach einer Definition gefragt
zusammenfassend als "ausgefeilte Techniken zur Vermeidung von
Neuerungen"
bezeichnen könnten, ihre Rechtsschulen erst von späteren Generationen von
Gelehrten bis zur Vollkommenheit systematisiert wurden. Die sunnitischen
'Ulema erkannten schnell die Exzellenz der vier Imame, und gegen Ende des
dritten Jahrhunderts des Islam finden wir kaum einen Gelehrten, der einer
anderen Schule folgt. Die gross
en hadiith-Spezialisten einschliess
lich
al-Buchari und Muslim waren allesamt loyale Anhänger des einen oder anderen
Madhhab, speziell desjenigen des Imam Schafi'I.
Die Verfeinerung der einzelnen Madhhabs
Innerhalb eines jeden Madhhab jedoch arbeiteten die führenden Gelehrten
weiter an der Verbesserung und Verfeinerung der "Wurzeln" und
"Zweige" ihrer
jeweiligen Schule. In manchen Fällen machte die historische Situation dies
nicht nur möglich, sondern notwendig. Zum Beispiel waren Gelehrte der Schule
des Abu Hanifa, die auf den frühen Gesetzesschulen von Kufa und Basra
aufbaute, in bezug auf einige Hadiithe, die im Iraq in Umlauf waren, wegen der
Häufigkeit von Fälschungen, hervorgerufen durch den dort starken
sektiererischen Einfluss, sehr vorsichtig. Später jedoch, nachdem die
autorisierten Sammlungen von Bukhari, Muslim und anderen erhältlich waren,
zogen folgende Generationen von Hanafi-Gelehrten zur Formulierung und
Überarbeitung ihres Madhhab den gesamten Korpus von Hadiithen in Betracht.
Diese Art von Prozess dauerte zwei Jahrhunderte, bis die Rechtsschulen im
vierten und fünften Jahrhundert nach der Hijra einen Reifezustand erreicht
hatten.
In dieser Zeit war es auch, dass eine Haltung von Toleranz und wohlwollendem
Respekt unter den Rechtsschulen von allen Seiten akzeptiert wurde. Dies wurde
von Imam al-Ghazali formuliert, selbst Verfasser von vier Textbüchern in
Schafi'I figh und Autor des al-Mustasfa, welches von vielen als das am
weitesten entwickelte und exakteste aller Werke der Usul al-figh angesehen
wird. In seinem wohlbekannten Bemühen um Aufrichtigkeit und seiner Abscheu
vor Zurschaustellung von Rivalitäten unter den Gelehrten verurteilte er aufs
schärfste, was er als "fanatische Anhängerschaft an einen
Madhhab"(!)
bezeichnete. (Ihya 'Ulum ad-Din, 65.) Während es eineseits für den Muslim
notwendig ist, einem anerkannten Madhhab zu folgen, um die tödliche Gefahr
einer Fehlinterpretation der Quellen zu vermeiden, darf er doch nicht in die
Falle gehen, seine eigene Rechtschule als grundsätzlich den anderen überlegen
zu betrachten. Von wenigen unbedeutsamen Ausnahmen abgesehen sind die gross
en
Gelehrten des sunnitischen Islam diesem von Imam al-Ghazali vorgegebenen
Ethos gefolgt und haben ein jeder dem Madhhab des anderen auffallenden
Respekt erwiesen. Diese Tatsache werden all diejenigen, die bei
traditionellen 'Ulema studiert haben, bestätigen können.
Die Entwicklung der Vier Schulen lähmte nicht, wie manche Orientalisten
behaupten, die Fähigkeit zur Verfeinerung und Ausweitung des positiven
Rechts. Im Gegenteil standen damit ausgeklügelte Mechanismen zur Verfügung,
die qualifizierte Personen nicht nur in die Lage versetzten, die Scharia
selbständig aus dem Qur'an und der Sunna abzuleiten, sondern sie sogar eben
dazu verpflichteten. Nach der Auffassung der überwiegenden Meinung der
Gelehrten ist es einem Experten, der die Quellen vollständig gemeistert hat
und eine Reihe von wissenschaftlichen Vorbedingungen erfüllt, nicht
gestattet, den vorliegenden Bestimmungen seiner Rechtsschule zu folgen,
sondern er muss diese selbst aus den offenbarten Quellen ableiten. Eine solche
Person bezeichnet man als Mujtahid, ein Begriff, der auf ein bekanntes hadiith
von Mu'adh ibn Jabal zurückgeführt wird.
Wer ist qualifiziert, Ijtihad zu machen?
Kaum jemand wird wohl ernsthaft bestreiten wollen, dass ein Muslim, der sich
jenseits des Bereiches der Expertenmeinungen wagt und selbst direkt auf
Qur'an und Sunna Bezug nimmt, ein Gelehrter von gross
er Eminenz sein muss. Die
Gefahr, dass Menschen die Quellen missverstehen und so der Schar'Iiah Schaden
zufügen, ist äusserst real, wie die Zwistigkeiten und Streitigkeiten gezeigt
haben, die einen Teil der frühen Muslime in der Zeit vor der Etablierung der
orthodoxen Rechtsschulen plagten. Ganze Religionen waren in vorIslamischer
Zeit von unsachgemässem Schriftgelehrtentum zu Fall gebracht worden, und es
war lebenswichtig, dass der Islam vor einem vergleichbaren Schicksal bewahrt
würde.
Um die Schar'Iiah vor der Gefahr von Neuerungen und Verzerrungen zu schützen,
legten die gross
en Gelehrten der Usul rigorose Bedingungen für denjenigen
fest, der für sich das Recht auf Ijtihad in Anspruch nehmen wollte. Diese
Bedingungen beinhalten: a) Vollkommene Kenntnis der arabischen Sprache, um die Möglichkeit der
Missinterpretation der Offenbarung aus rein sprachlichen Gründen zu
minimieren;
(b) Profunde Kenntnis des Qur'an und der Sunna und der Begleitumstände der
Offenbarung jedes Verses und jedes hadiith, gepaart mit vollständiger Kenntnis
der Qur'an- und hadiith-Kommentare sowie Beherrschung aller oben genannten
Interpretationstechniken;
(c) Kenntnis der spezialisierten Hadiithwissenschaften wie z. B. der Bewertung
von Überlieferern und Matn;
(d) Kenntnis der Ansichten der Prophetengefährten, möge Allah
mit ihnen
zufrieden sein, ihrer Nachfolger und der gross
en Imame, und der Positionen und
Begründungen, wie sie in den Textbüchern des figh dargelegt sind, sowie,
damit verbunden, Kenntnis der Fälle, in denen eine Übereinstimmung (Ijma)
erreicht worden ist;
(e) Kenntnis des Wissenschaftszweiges der Gesetzesverfahren betreffenden
Analogie (Qiyas), ihrer Arten und Voraussetzungen;
(f) Kenntnis der eigenen Gesellschaft und der öffentlichen Interessen
(Maslaha);
(g) Wissen betreffs der allgemeinen Zielsetzungen (Maqasid) der Schar'Iiah;
(h) Ein hohes Mass an Intelligenz und persönlicher Frömmigkeit, verbunden
mit
den Islamischen Tugenden Barmherzigkeit, Höflichkeit und Bescheidenheit.
Ein Gelehrter, der diese Bedingungen erfüllt, kann als Mujtahid fi'l Schar'
bezeichnet werden, und er ist nicht verpflichtet ? es ist ihm sogar nicht
einmal gestattet ?, einem der bestehenden autorisierten Madhhabs zu folgen.
Dies ist, was einige der Imame sagten, als sie ihren Meisterschülern
untersagten, sie unkritisch zu imitieren.
Für die viel gröss
ere Anzahl der Gelehrten jedoch, deren Expertentum nicht
solch schwindelerregende Höhen erreicht, ist es möglich, ein Mujtahid fi'l
Madhhab zu werden, das heisst, ein Gelehrter, der im gross
en und ganzen an den
Lehren seiner Rechtsschule festhält, jedoch qualifiziert ist, innerhalb
dieser von überkommenen Ansichten abzuweichen. Es gibt eine gross
e Anzahl von
Beispielen solcher Männer, wie zum Beispiel Imam an-Nawawi unter den
Schafi'Iten, Qadi Ibn 'abd al-Barr unter den Malikiten, Ibn 'abidin unter den
Hanafiten oder Ibn Qudama unter den Hanbaliten. All diese Gelehrten
betrachteten sich selbst als Anhänger der fundamentalen Interpretationsgrundsätze
ihres jeweiligen Madhhabs, jedoch wird von einer Vielzahl von Fällen
berichtet, in denen sie ihre Fähigkeiten als Gelehrte und ihr Urteilsvermögen
nutzten und so zu neuen Verdikten innerhalb ihrer Rechtsschule kamen. An diese
Experten war auch der Rat der Mujtahid-Imame wie Imam Schaf'I'Is Anweisung
"wenn du ein hadiith findest, das meinem Urteil widerspricht, so folge dem
hadiith" bezüglich Ijtihad gerichtet. Es ist offensichtlich ? was auch
immer einige Autoren heutzutage glauben machen möchten ?, dass solche Ratschläge
niemals für den Gebrauch der
Islamisch-ungebildeten Massen bestimmt waren.
Weitere Kategorien von Mujtahids werden von den Gelehrten der Usul
aufgeführt, doch sind die Unterscheidungsmerkmale zwischen ihnen feiner und
für unser Thema eher unbedeutend. Sie lasssen sich in der Praxis auf zwei
Kategorien reduzieren: Den Muttabi' ("Nachfolger"), der seinem
Madhhab folgt
und sich dabei der qur'anischen Quellen und hadiith-Texte sowie der den
jeweiligen Positionen zugrundeliegenden Erklärungen bewusst ist; und zweitens
den Muqallid ("Nachahmer"), der dem Madhhab einfach aufgrund seines
Vertrauens in seine Gelehrten folgt, ohne unbedingt die detaillierten
Erklärungen für all seine Tausenden von Regeln zu kennen.
Warum man ein Muqallid (Anhänger eines Madhhab) sein sollte
Natürlich ist es jedem Muqallid empfohlen, so viel wie ihm oder ihr möglich
von den formellen Belegtexten seines Madhhab zu lernen. Doch ebenso natürlich
ist, dass nicht jeder Muslim ein (Rechts-)Gelehrter sein kann. Das Studium der
Rechtswissenschaft ist mit gross
em Zeitaufwand verbunden, und damit die Ummah
ordnungsgemäss funktionieren kann, ist es notwendig, dass die Mehrzahl der
Menschen einer anderen Beschäftigung wie z. B. der des Buchhalters, Militärs,
Metzgers etc. nachgehen. Als solchen kann man von ihnen vernünftigerweise
nicht erwarten, dass sie allesamt gross
e 'Ulema werden, selbst wenn wir davon
ausgingen, dass sie alle über die erforderliche Intelligenz verfügen. Im
heiligen Qur'an selbst wird festgelegt, dass weniger gut informierte Gläubige
sich an qualifizierte Fachleute wenden sollen: "So fragt die Leute der
Erinnerung, wenn ihr nicht wisst" (16:43).
Den Tafsir-Experten zufolge sind mit "Leute der Erinnerung" die
'Ulema
gemeint. Und in einem anderen Vers wird es den Muslimen zur Pflicht gemacht,
eine Gruppe von Spezialisten zu schaffen und aufrechtzuerhalten, die für die
autorisierte Führung der Nicht-Spezialisten sorgen sollen: "Warum bricht
nicht aus jeder Gemeinde eine Gruppe auf, auf dass sie Wissen in der Religion
erlangen und es ihren Leuten verkünden, wenn sie zu ihnen zurückkehren, auf
dass sie sich in acht nehmen."
In Anbetracht des hohen Grades an Kenntnissen, die zum exakten Verständnis
der offenbarten Texte notwendig sind, und der eindringlichen Warnungen, die
uns vor Verzerrungen der Offenbarung gegeben wurden, ist es offensichtlich,
dass einfache Muslime verpflichtet sind, der Meinung von Fachleuten zu folgen,
statt sich auf ihre eigenen Deutungen und ihr eigenes begrenztes Wissen zu
verlassen. Diese offenkundige Verpflichtung war den frühen Muslimen bestens
vertraut: Der Khalif 'Umar, möge Allah
mit ihm zufrieden sein, folgte
bestimmten Regelungen Abu Bakrs, möge Allah
mit ihm zufrieden sein, indem er
sagte: "Ich würde mich vor Allah
schämen, von der Ansicht Abu Bakrs
abzuweichen." Und Ibn Masûd, möge Allah
mit ihm zufrieden sein, obwohl
er
ein Mujtahid im vollen Sinne des Wortes war, folgte in bestimmten
Angelegenheiten 'Umar, möge Allah
mit ihm zufrieden sein. Al-Scha'bi
berichtet: "Sechs der Prophetengefährten, möge Allah
mit ihnen
zufrieden
sein, pflegten den Leuten Fatwas zu geben: Ibn Masûd, 'Umar ibn al-Khattab,
'ali, Zayd ibn Thabit, 'Ubayy ibn Ka'b und Abu Musa al-Asch'ari. Unter diesen
waren drei, die ihr eigenes Urteil zugunsten des Urteils eines anderen
aufzugeben pflegten: 'abdullah ibn Masûd gab sein Urteil zugunsten des
Urteils von 'Umar auf, Abu Musa gab sein Urteil zugunsten des Urteils 'alis
auf, und Zayd gab sein Urteil zugunsten des Urteils 'Ubayy ibn Ka'bs auf,
möge Allah
mit ihnen allen zufrieden sein.
Diese Aussage, nämlich dass man gut beraten ist, einem der gross
en Imame als
Führer in Sachen der Sunnah zu folgen, statt sich auf sich selbst zu
verlassen, gilt um so mehr für Muslime in Ländern wie Grossbritannien, unter
denen nur ein kleiner Prozentsatz für sich das Recht beanspruchen kann, in
dieser Angelegenheit eine Wahl zu treffen. Der einfache Grund ist, dass, wenn
man nicht Arabisch kann, man nicht in der Lage ist, alle eine bestimmte
Angelegenheit betreffenden Hadiithe zu lesen, selbst wenn man es möchte. Aus
verschiedenen Gründen, Daarunter ihrem gross
en Umfanges wegen, liegen nicht mehr als
zehn der bedeutenden hadiith-Sammlungen in englischer Übersetzung vor. Es
bleiben weit über dreihundert andere Sammlungen, unter ihnen solch
grundlegende Werke wie das Musnad des Imam Ahmad ibn Hanbal, das Musannaf des
Ibn Abi Schayba, das Sahih des Ibn Khuzayma, das Mustadrak des al-Hakim und
eine gross
e Zahl anderer vielbändiger Sammlungen, die viele authentische
Hadiithe enthalten, die nicht in Bukhari, Muslim und den anderen bisher übersetzten
Werken zu finden sind.
Selbst wenn wir davon ausgehen, sämtliche vorliegenden Übersetzungen seien
vollkommen fehlerfrei, muss uns doch klar werden, dass eine Vorgehensweise,
die
die Schar'Iiah direkt aus dem Buch und der Sunnah abzuleiten versucht, nicht
von Leuten in die Tat umgesetzt werden kann, die keinen Zugang zum Arabischen
besitzen. Der Versuch, die Schar'Iiah ausschliess
lich auf der Grundlage
der
übersetzten Hadiithe festzulegen, hiesse einen gross
en Teil der Sunnah zu
ignorieren und zu amputieren, mit dem Resultat gefährlicher Verfälschungen.
Hier möchte ich dafür nur zwei Beispiele nennen. Die sunnitischen Madhhabs
legen in ihren Regeln zur Durchführung von Gerichtsverfahren das Prinzip
fest, dass die kanonischen Strafen (Hudud) in Fällen, in denen die geringste
Unklarheit besteht, nicht angewendet werden sollen und dass der Qadi sich
aktiv Daarum bemühen soll, nachzuweisen, dass solche Unklarheiten bestehen.
Ein
Amateur wird beim Studium der "Authentischen Sechs" Überlieferungen
keine
Bestätigung dafür finden. Und doch stützt sich diese Madhhab-Regel auf ein
hadiith mit zuverlässiger Überliefererkette, festgehalten im Musannaf des Ibn
Abi Schayba, dem Musnad des al-Harithi und dem Musnad des Musaddad ibn
Musarhad. Der Text lautet: "Wendet die Hudud ab mit Hilfe von
Unklarheiten".
Imam al-Sana'ani gibt in seinem Buch Al-Ansab die Umstände der Überlieferung
dieses hadiith wieder: "Ein Mann wurde betrunken aufgegriffen und vor
'Umar
gebracht, der anordnete, dass die Hadd von achzig Schlägen an ihm vollzogen
werde. Nachdem dies geschehen war, sagte der Mann: "'Umar, du hast mir
unrecht getan! Ich bin ein Sklave!" (Sklaven erhalten nur die Hälfte der
Strafe.) 'Umar war daraufhin verzweifelt vor Schuldgefühl und rezitierte das
hadiith des Propheten, Allahs Segen und Friede sei über ihm: "Wendet die
Hudud
ab mit Hilfe von Unklarheiten".
Ein weiteres Beispiel bezieht sich auf die wichtige, von den Madhhabs
anerkannte Praxis, das Sunnah-Gebet so schnell wie möglich nach dem
Maghrib-Pflichtgebet zu verrichten. Das hadiith lautet: "Beeilt euch, die
zwei
Rak'at nach dem Maghrib zu verrichten, denn sie werden gemeinsam mit dem
Pflichtgebet (zum Himmel) emporgetragen!" Das hadiith wird von Imam Razin
in
seinem Jami' überliefert.
Wegen ihrer traditionellen, tiefer Frömmigkeit entspringenden Furcht vor
einer Verfälschung des göttlichen Gesetzes hat die überwältigende Mehrheit
der gross
en Gelehrten der Vergangenheit ? sicherlich weit über neunundneunzig
Prozent ? loyal an einem Madhhab festgehalten. Es ist wahr, dass im von Wirren
geplagten vierzehnten Jahrhundert eine Handvoll von Abweichlern auftauchte
wie Ibn Taymiyya und Ibn al-Qayyim; doch selbst diese Personen empfahlen
niemals, dass halb-gebildete Muslime versuchen sollten, Ijtihad zu
unternehmen. Selbst wenn diese Autoren in letzter Zeit
"wiedererweckt" und zu
Berühmtheiten gemacht worden sind, ist ihr Einfluss auf das traditionelle
Gelehrtentum des klassischen Islam zu vernachlässigen, wie schon die geringe
Anzahl von Manuskripten ihrer Werke in den gross
en Bibliotheken der
Islamischen Welt verrät.
Die derzeit gängige Stimmungsmache gegen die Rechtsschulen
Trotz alledem haben gesellschaftliche Turbulenzen eine Reihe von Autoren
emporgebracht, die die Aufgabe autorisierten Gelehrtentums fordern. Die
prominentesten Figuren in dieser Kampagne waren Muhammad Abduh und sein
Schüler Muhammad Raschid Rida. Beeindruckt vom Triumph des Westens und in
subtiler Weise geleitet von ihrer eigenen wohldokumentierten Verpflichtung
zum Freimaurertum riefen sie die Muslime auf, die "Fesseln des
Taqlid"
abzuwerfen und die Autorität der vier Rechtsschulen nicht länger
anzuerkennen.
Heutzutage ist es in einigen arabischen Hauptstädten, besonders dort, wo die
ursprüngliche Tradition orthodoxer Gelehrsamkeit geschwächt ist, an der
Tagesordnung, junge Araber zu sehen, die ihre Wohnungen mit allen irgendwo
greifbaren hadiith-Sammlungen vollstopfen und über diesen brüten,
offensichtlich in dem Glauben, dass sie einer Fehlinterpretation dieser
unermesslich gross
en und komplexen Literatur weniger leicht anheimfallen als
Imam Schafi'I, Imam Ahmad und die anderen gross
en Imame.
Es fällt nicht schwer, vorherzusagen, dass dieses verantwortungslose
Vorgehen,
auch wenn es noch nicht überall verbreitet ist, stark divergierenden
Ansichten Tor und Tür öffnet, die in gefährlicher Weise die Einheit,
Glaubwürdigkeit und Effektivität der Islamischen Bewegung schädigt und
harte
Auseinandersetzungen über Fragen provoziert, die von den gross
en Imamen vor
über tausend Jahren geklärt worden sind.
Es ist heutzutage nichts Ungewöhnliches mehr, junge Aktivisten bei ihren
Streifzügen durch die Moscheen zu sehen, auf denen sie andere Gläubige für
das kritisieren, was sie für Fehler in deren Gebetsformen halten, selbst wenn
ihre Opfer dabei dem Urteil eines der gross
en Imame des Islam folgen.
Die dabei erzeugte unerfreuliche, pharisäerhafte Atmosphäre führt dazu, dass
viele weniger engagierte Muslime überhaupt nicht mehr zur Moschee kommen.
Keiner scheint sich an die Ansicht der frühen 'Ulema zu erinnern, dass die
Muslime unterschiedliche Interpretationen der Sunnah tolerieren sollten,
solange diese Interpretationen von angesehenen Gelehrten vertreten werden.
Wie Sufyan ath-Thauri sagte: "Wenn du jemanden etwas tun siehst, worüber
unter den Gelehrten unterschiedliche Ansichten bestehen und was du selbst für
verboten hältst, solltest du ihm nicht verbieten, es zu tun." Die
Alternative
zu diesem Vorgehen ist klar ersichtlich eine Uneinigkeit und Zwietracht, die
die Gemeinschaft der Muslime von innen her vergiften wird.
In einer westlich geprägten globalen Kultur, in der die Menschen von
Kindesbeinen an aufgefordert werden, "für sich selbst zu denken"
und jede Art
von bestehender Autorität in Frage zu stellen, kann es gelegentlich
schwerfallen, genug Demut aufzubringen, seine eigenen Grenzen zu erkennen.
Wir alle sind wie kleine Pharaonen: Unsere Egos sind von Natur aus immun
gegen die Vorstellung, jemand anderes könnte wesentlich intelligenter oder
gebildeter sein als wir selbst. Der Glaube, dass einfache Muslime, selbst wenn
sie nicht einmal Arabisch können, qualifiziert sind, selbständig Regeln der
Schar'Iiah abzuleiten, ist geradezu ein Paradebeispiel für diese amoklaufende
Selbstherrlichkeit. Für junge Menschen, die stolz auf ihr eigenes Urteil und
nicht vertraut mit der Komplexität der Quellen und dem Scharfsinn
authentischen Gelehrtentums sind, kann dies zu einer wirksamen Falle werden,
die darin mündet, sie vom traditionellen Weg des Islam weg in ungewollte
Verhaltensweisen zu locken, die tiefe Gräben zwischen den Muslimen aufreissen.
Die Tatsache, dass alle gross
en Religionsgelehrten einschliess
lich der
hadiith-Experten selbst einem Madhhab angehörten und von ihren Schülern
verlangten, dass sie einem Madhhab angehören, scheint in Vergessenheit
geraten
zu sein. Die Überheblichkeit hat einen gross
en Sieg über den gesunden
Menschenverstand und Islamisches Verantwortungsbewusstsein errungen.
Im Heiligen Qur'an wird den Muslimen befohlen, ihren Verstand und ihre
Fähigkeit zu denken zu nutzen; die Frage des Befolgens qualifizierten
Gelehrtentums ist ein Bereich, in dem diese Fähigkeiten mit gröss
ter
Sorgfalt
angewendet werden sollten. Als Ausgangspunkt sollte gewürdigt werden, dass
kein grundsätzlicher Unterschied zwischen Usul al-figh und irgendeiner
anderen spezialisierten, zeitaufwendiges Studium erfordernden Wissenschaft
existiert.
Die Gefährlichkeit des selbst-fabrizierten Ijtihad
Schaykh Sa'Id Ramaḍaan al-Buti, der die Antwort des traditionellen Islam gegen
die anti-Madhhab-Stimmung in seinem Buch "Nicht-Madhhabismus: Die gröss
te
Bid'a als Bedrohung der Islamischen Schar'Iiah" artikuliert hat,
vergleicht
die Wissenschaft der Ableitung von Regeln mit der medizinischen Wissenschaft.
Er fragt: "Wenn jemandes Kind ernsthaft erkrankt ist, sucht er dann
selbst in
der medizinischen Fachliteratur nach der zutreffenden Diagnose und den
entsprechenden Heilmitteln, oder sollte er nicht zu einem ausgebildeten Arzt
gehen?" Ein geistig Gesunder wird wohl die letztere Möglichkeit wählen.
Nichts anderes gilt auch in Glaubensdingen, die in Wirklichkeit noch viel
wichtiger und mit viel gröss
eren potentiellen Gefahren behaftet sind. Wir
wären sowohl dumm als auch verantwortungslos, wenn wir versuchten, selbst die
Quellen auszuwerten und unser eigener Mufti zu werden. Statt dessen sollten
wir einsehen, dass diejenigen, die ihr ganzes Leben damit verbracht haben, die
Sunnah und die Gesetzesprinzipien zu studieren, dabei weniger leicht Gefahr
laufen, Fehler zu machen, als wir.
Ein anderer Vergleich liesse sich hinzufügen, diesmal aus dem Bereich der
Astronomie. Wir könnten den Qur'an und die Hadiithe mit den Sternen
vergleichen. Mit dem blossen Auge können wir viele von ihnen nicht klar
erkennen; deshalb brauchen wir ein Teleskop. Wenn wir dumm sind oder stolz,
mögen wir versuchen, selber eines zu bauen. Wenn wir jedoch vernünftig und
bescheiden sind, werden wir uns glücklich schätzen, eines zu benutzen, das
Imam Schafi'I oder Ibn Hanbal für uns konstruiert haben und das von
Generationen von gross
en Astronomen verfeinert, geschliffen und verbessert
worden ist. Ein Madhhab ist kurz gesagt nichts anderes als ein
Präzisions-Instrument, das uns ermöglicht, den Islam mit grösstmöglicher
Klarheit zu sehen.
Und noch ein drittes Bild mag zur Illustration benutzt werden: Ein uraltes
Gebäude, nehmen wir die Blaue Moschee in Istanbul, mag einigen, die darin ihr
Gebet verrichten, unvollkommen erscheinen. Junge Enthusiasten, erfüllt von
dem leidenschaftlichen Wunsch, das Gebäude noch ausgezeichneter und
vorzüglicher (und zweifelsohne mehr ihren eigenen zeitbedingten Vorlieben
entsprechend) zu gestalten, könnten sich Zugang zu den Krypten und
Kellergewölben verschaffen, die der architektonischen Struktur zugrunde
liegen, und auf der Grundlage ihres eigenen Verständnisses von Prinzipien der
Architektur versuchen, die Fundamente und Säulen, die das gross
artige Gebäude
stützen, zurechtzurücken. Natürlich werden sie weder Zeit mit der
Konsultation professioneller Architekten verschwenden, auss
er vielleicht einem
oder zweien, deren Rhetorik ihnen zusagt, noch sich von den Büchern und
Berichten derjenigen leiten lassen, die diese Strukturen über Jahrhunderte
hinweg instand gehalten haben. Ihr Eifer und Stolz lassen ihnen dazu keine
Zeit. Sie tasten sich durch die Gewölbe, holen ihre Meissel und Schlagbohrer
hervor und machen sich in ihrem blinden Enthusiasmus an die Arbeit.
Es besteht eine reale Gefahr, dass dem sunnitischen Islam Ähnliches
widerfährt. Das Gebäude hat Jahrhunderte überdauert und den erbittertesten
Angriffen seiner Gegner widerstanden. Nur von innen heraus kann es geschwächt
werden. Zweifelsohne hat der Islam intelligente Gegner, denen diese Tatsache
nur allzu gut bekannt ist. Das Schauspiel der Uneinigkeit und Fitna, welche
die frühen Muslime trotz ihrer weit gröss
eren Frömmigkeit spalteten, und
die
Beständigkeit und der Zusammenhalt des Sunnitentums nach der Kodifizierung
der Schar'Iiah in Form der vier Rechtsschulen der gross
en Imame haben
sicherlich eine Menge böswilliger Köpfe auf eine Idee gebracht. Dies soll in
keiner Weise unterstellen, dass diejenigen, die die gross
en Madhhabs
angreifen,
bewusst Werkzeuge der Feinde des Islam seien. Aber es könnte teilweise
erklären, weshalb ihre Schriften ständig in riesigen Auflagen publiziert und
sie finanziell mehr als ausreichend versorgt werden, während der
traditionellen Alternative die Mittel fehlen. Wenn jeder Muslim ein stolzer
Mujtahid ist und Taqlid eher als Sünde abgelehnt denn als bescheidene und
notwendige Tugend betrachtet wird, werden die divergierenden Ansichten, die
in unserer frühen Geschichte so viel Leid verursacht haben, mit Sicherheit
wieder zutage treten. Statt vier Madhhabs in Harmonie miteinander, wird es
eine Milliarde Madhhabs in erbittertem und selbstherrlichem Konflikt
gegeneinander geben. Eine intelligenter ausgeklügelte Strategie zur
Vernichtung des Islam könnte es nicht geben.
Erstmals erschienen in "Der Morgenstern - Forum der Muslime",
Nr. 8, 4.
Quartal 1997, S. 30 ff., Spohr Verlag Kandern - vgl.
http://www.abendstern.de
- Nachdruck mit freundlicher Erlaubnis des Verlages.