Welt voller Verdächtiger: Was, bitte, ist ein Islamist?
Interview mit Abu Bakr Rieger zur Befindlichkeit der
Muslime - von Abubakr Rieger
IZ: Wie hat das Attentat in New York die Lage der Muslime verändert?
Rieger: Das furchtbare Attentat in New York hat unglaublich schnell die
geistige und soziale Situation der Muslime in Deutschland verändert. Ein
erfolgreicher türkischer Geschäftsmann und wichtiger Steuerzahler in Bayern
mit dem ich befreundet bin, hat mir gestern erschüttert erzählt, dass ihn
alle seine deutschen Freunde gefragt haben "finanzierst du Terrorismus?".
Man muss sich sorgen, dass diese Situation stufenartig weiter eskaliert.
IZ: Was ist für das geistige Klima in Deutschland zu befürchten?
Rieger: Wenn man nicht aufpasst, werden wir bald alle in einer Welt "voller
Verdächtiger" leben - denn, in der nächsten Stufe, könnte es ja auch
gefährliche Muslime geben, die so tun und aussehen, als wären Sie Deutsche
und die sagen, wenn man Sie fragt, sie seien keine Muslime, sind es aber doch
und dann sind plötzlich auch alle Deutsche Verdächtige. Ein Bayer mit
schwarzem Schnurrbart der über den Marienplatz läuft, eine Tasche trägt,
ein Verdächtiger? Am Ende wird natürlich die ganze Bevölkerung von den Verdächtigungen
und polizeilichen Massnahmen getroffen.
IZ: Was sagen Sie zu den Einschränkungen des Vereinsrecht?
Rieger: Vereine in Deutschland die zum politischen Terror oder Extremismus
aufrufen sind natürlich auch im Interesse aller Muslime zu verbieten. Das ist
klar und auch nicht neu. Die Muslime haben nichts zu verbergen. Jedoch sollten
die Verfahren diesbezüglich streng rechtsstaatlich sein: also keine Verfahren,
die durch Medien oder Islamexperten geführt werden. Aber es gibt noch einen
Aspekt.
IZ: Sie meinen für die Muslime?
Rieger: Ja. Wir Muslime müssen nicht nur vereinsrechtlich, sondern auch
intern beraten, wie unser Islam sauber zu begründen ist. Wie wir
extremistisch-modernistische Formen wie "das Selbstmordattentat"
ausgrenzen können ist eine wichtige Frage. Hierzu braucht es die Gelehrten
der gross
en Rechtsschulen. Islam kann nicht durch jede beliebige Meinung, die
ein Muslim irgendwo hat oder glaubt haben zu können, diskreditiert werden.
Hierbei sollten wir auch die dümmliche Dialektik Tradition-Moderne verneinen.
Beispielsweise ist das Kernverbot des Wuchers oder die Regeln des Zakats für
über eine Milliarde Muslime absolut zeitlos. Vor allem darf auch, was Islam
ist, nicht allein durch Nichtmuslime oder durch Islamexperten, denen es
peinlich ist, dass sie Araber sind, definiert werden.
IZ: Inwiefern wurde der Islam auch durch den Westen beeinflusst?
Rieger: Man muss sehen, dass viele radikale Muslime in Paris, London oder
Berlin studiert haben - nicht unbedingt mit einem klassisch ausgebildeten
Gelehrten unter einem Baum sass
en. Die ideologische oder totale Komponente im
heutigen Islam stammt ja ironischerweise aus der westlichen Ideologie. Der
Islam hat - Gott sei Dank - keinen Hitler, Stalin, Milosevic oder Ceaucescu
oder den unseligen Rassismus hervorgebracht. Wer hat Saddam Hussein den
Sozialismus erklärt? Globale oder totale, ewige Dominanz ist ebenfalls keine
Islamische Idee. Über diesen Aspekt und den Beitrag der westlichen
Politikwissenschaft zur Radikaliserung des Islam wird wenig nachgedacht. Die
Idee eines "totalen oder grenzenlosen Krieges" ist dem Islam
ebenfalls absolut fremd.
IZ: Was schützt den Islam vor Extremen?
Rieger: Das Wissen um den Propheten Muhammad, Friede sei mit ihm. Die Liebe
zu ihm. Das Wissen um die Gemeinschaft des Propheten. Der Prophet war weder
ein weltabgewandter Esoteriker, noch ein fanatischer Extremist. Er liebte,
ehrte und respektierte die Frauen. Er war der "laufende Qur'an".Es
ist jetzt eine Zeit, viel über das Leben des Propheten und die Wirklichkeit
seiner Gemeinschaft zu verbreiten. In Madinah hat der Prophet eine Moschee und
einen freien Markt und Handel etabliert. Der Prophet steht für geistige und
ökonomische Freiheit.
IZ: Was schützt den Islam vor Hass?
Das Wissen um Allah
. Islam, Iman und Ihsan. Muslime haben keine Dialektik
oder Zweiweltenlehre, definieren sich nicht "gegen" etwas. Muslime
glauben an das Schicksal, an die Gerechtigkeit des Schicksals und sind
zufrieden mit jedem Schicksal. Dazu passt Hass als destruktive und irreführende
Seinsform nicht. auss
erdem, wer die Dialektik studiert, wird sehen, dass alle
Eigenschaften die man dem Feind zuschreibt, am Ende in den eigenen Reihen
vorzufinden sind.
IZ: Man spricht heute viel von "Islamisten" - was ist denn ein
Islamist?
Das ist die ungeklärte Frage.Es gibt da ja keine rationale Definition.
Wenn man sich zum Beispiel die Positionen von Peter Scholl-Latour anschaut,
dann ist er ein Fundamentalist, ist es aber doch nicht, weil er ein Christ ist.
Habe ich aber zum Beispiel die selben Positionen, bin ich ein Islamist. Was würde
man sagen, wenn ich nun Scholl-Latour verdächtigen würde, er plane eine
Staat nach dem Vorbild von Augustinus? Das ist alles noch ziemlich paradox. Es
kann ja hoffentlich nicht so weit gehen, damit ich ein "guter
Muslim" bin, überhaupt keine politische Position haben darf? Absurd -
ich hatte Positionen als Deutscher, bevor ich Muslim war und ich habe sie natürlich
immer noch.
IZ: Sie sind also ein Islamist?
Wenn man ein Islamist ist, wenn man die ökonomische Ordnung analysiert,
die Irrationalität der Börsen und Währungen sieht oder die
Verschuldungslogik ablehnt, die himmelschreiende Ungerechtigkeit in
Afrika und Asien anprangert und sich dann überlegt, wie der Islam diese Phänomene
ansieht, dann bin ich einer.
Wenn Islamist sein heisst man ist ein hasserfüllter, irrationaler Gegner der
USA, bin ich keiner. Da gibt es ja viel Banales. Was ist eigentlich die USA?
Die Bush-Administration? Muhammad Ali? Das amerikanische Volk? Kinder und
Frauen? Wyndham Lewis? Der IWF? Daimler-Chrysler? Die Nato? Die globale Öl-
und Finanzindustrie?
Amerika ist ja kein homogener Begriff, deswegen sind banale Feindbilder natürlich
schlicht idiotisch. Also, wenn es nach mir gehen sollte: ich bin ein Muslim -
nicht mehr und nicht weniger.
IZ: Was ist der Grundfehler des politischen Extremismus?
Er verliert die Balance, da Islam mehr ist, als nur eine Ideologie. Der
Islam ist ein komplexer Nomos, den man nicht allein auf das Politische
reduzieren kann. Muslime verlieren natürlich Ihr Recht, wenn sie mit
titanischen Mitteln morden. Sie verlieren ihre Würde, wenn sie der Tod vieler
Menschen etwa beglückt. Aber auch die nüchterne Einsicht fehlt, dass der
Terrorismus immer das System stärkt, dass man angeblich attackieren möchte.
Der Kapitalismus als System - man erinnere nur an die Aktien der Rüstungsindustrie
- wird durch die Attacke letztendlich - wenn Allah
will - sogar gestärkt
werden und man legitimiert dadurch den totalen, globalen Überwachungsstaat.
Der Terrorismus zwingt auch zur Aufgabe von elementaren Rechtsvorstellungen:
Opfer, Ankläger, Richter und Verfolger verschmelzen in einer Instanz. Dies
wollen die Muslime ebenfalls nicht - wem nutzt also Terrorismus?
IZ: Was stört sie am meisten in der jetzigen Diskussion?
Rieger: Zum Einen die unvermeidbare und abgründige Heuchelei. Es ist doch
unglaublich verlogen, dass nun Russland und China zu "Terrorismusbekämpfer"
geadelt werden. Es fehlt nur noch, dass man Milosevic begnadigt, da er ja ein
Feldzug gegen möglichen Islamischen Terrorismus geführt habe. Wie kann das
aufgeklärte Europa da schweigen?
Zum Anderen die Attacke auf viele türkischen Muslime. Sie haben hier über 20
Jahre absolut gesetzestreu gelebt. Alle, die jetzt türkische Organisationen
bespitzeln, überwachen und beargwöhnen wollen, haben geschwiegen als es in
der Türkei und im gesamten arabischen Raum absolut undemokratisch zuging. Es
ist doch sonnenklar, dass die türkischen Muslime mit arabischen Terrorismus
absolut nichts zu tun haben.
IZ: Wie sollte man mit dem Islam umgehen?
Rieger: Ich denke differenziert.Wir Muslime müssen de facto rechtfertigen,
was heute "ist" von Afghanistan bis Rushdie, die Muslime sind grundsätzlich
für alle Islamischen Realitäten dieser Welt sofort verantwortlich. Die
Nicht-Muslime müssen nur normativ rechtfertigen "was sein wird".
Wäre China ein Islamischer Staat, hätten Sie niemals die olympischen Spiele
bekommen, dies rechtfertigt man mit dem geistigen Salto "es werde ja
irgendwann mit westlicher Hilfe dort alles gut". China ist sofort und
heute akzeptabel. Schafft unsere ökonomische Ordnung de facto Hunger und Not,
sind wir im Westen nicht verantwortlich, da wir ja andere, hehre Absichten
verfolgen, die natürlich irgendwann einmal auch eintreten werden. Für einen
Afrikaner übrigens heute schon ein schwacher Trost.
IZ: Was ist die Chance der Situation? Sind die Folgen nur negativ oder könnte
es eine neue Gesprächskultur geben?
Ich habe gehört, dass in Berlin alle Qur'ane und Bücher über den Islam
ausverkauft sind. Der Islam, den Goethe verehrte und nach dem Rilke sich
sehnte, der Islam der Armen, der Islam der Europa inspirierte, wird auch
weiter - wenn Allah
will - hunderttausende anziehen. Gerade jetzt. Immer mehr
Europäer wollen wissen, warum der Islam so dramatisch wächst.
Die These Huntingtons "vom angeblichen Kampf der Kulturen" ist, nach
meinem Verständis, vor allem deswegen falsch, weil der Islam keine fixe
Kultur ist. Der Islam bringt verschiedenste Kulturen hervor - ist aber selbst
keine. Zudem - was ist die westliche Kultur noch anderes als Konsum?
Wir deutschen Muslime lieben Mozart, Beethoven, Goethe und Schiller, wir
kleiden uns anders, wir bauen anders - aber wenn wir in Mekkah um die Kaaba
kreisen, oder Qur'an rezitieren, sind wir genauso Muslim wie alle anderen
Millionen Muslime. Es gibt keinen Kampf der Kulturen - eher einen
verzweifelten Aufstand der Armen ud Verschuldeten.
IZ: Wie wird der Diskurs
weitergehen?
Rieger: Europa hat erkannt, dass die Dynamik des entfesselten Kapitalismus
und schrankenloser Finanztechnik auf einen Abgrund zuführt. Kann der Islam
die Ökonomie und die Logik des Kapitalismus begrenzen? Kann es in einer
gottlosen Welt Gerechtigkeit geben? Diese entscheidende Frage wird in jedem
Falle bestehen bleiben.
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