Islam
gegen Rassismus
Yusuf Kuhn 16.01.2001 (amana-online.de
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As-salamu alaikum!
Der Friede sei mit euch, liebe Brüder und Schwestern im Islam und in der
Menschheit!
Ich wurde gebeten, hier über das Verhältnis von Islam und Rassismus zu
sprechen. Ich habe etwas gezögert, bevor ich zusagte. Denn es ist nicht leicht,
ein so komplexes Thema in so kurzer Zeit zu behandeln. Und leicht stellen sich
dabei Missverständnisse ein, da das Meiste nur angedeutet und vieles andere nicht
einmal erwähnt werden kann, obwohl es dies eigentlich verdiente. Es kann sich
bei den folgenden Ausführungen also nicht um ein abgerundetes, geschweige denn
halbwegs vollständiges Bild handeln, sondern gewissermassen nur um Schlaglichter,
die ein paar Aspekte dieses Themas unter einer bestimmten Perspektive beleuchten.
Ich bitte daher, dies beim Zuhören immer in Gedanken zu behalten.
Beginnen möchte ich mit einem Wort des Propheten des Islam, des letzten
Propheten Muhammad, die uns mitten in unser Thema führen. Um diese Worte recht
zu verstehen, sind allerdings ein paar einführende Bemerkungen über die Umstände
angebracht, unter denen diese Worte fielen.
Der Prophet Muhammad lebte zu Beginn des 7. Jahrhunderts auf der arabischen
Halbinsel, zunächst in Mekka und später in Medina. Hier empfing er über einen
Zeitraum von 23 Jahren hinweg nach und nach die Offenbarungen Gottes, die uns
noch heute in unveränderter Form im Koran gesammelt vorliegen.
Gegen Ende seines Lebens unternahm der Prophet Muhammad zusammen mit einer
gross
en muslimischen Gemeinschaft aus Medina eine Pilgerfahrt nach Mekka. Die
Muslime nennen die Pilgerfahrt auf Arabisch "HHhadsch". Die HHhadsch gehört wie das
fünfmal täglich zu verrichtende Gebet zur Pflicht eines jeden Muslim und einer
jeden Muslimin, freilich nur einmal im Leben.
Zum Zeitpunkt der Pilgerfahrt, die einmal im Jahr in einem bestimmten Monat
stattfindet, treffen sich also Muslime - Männer, Frauen und Kinder - aus der
ganzen Welt an einem Ort, nämlich in Mekka. Heutzutage sind es alljährlich weit
über eine Million Menschen aus allen Regionen, Kulturen und Gesellschaften der
Welt, um sich an diesem Ort als eine Gemeinschaft zusammenzufinden, ihre
Unterschiede, die sie sonst trennen mögen, hinter sich zu lassen und als Brüder
und Schwestern wie eine Familie vor ihrem Schöpfer zu stehen, dem einen und
einzigen Gott, der alle Menschen geschaffen hat.
Zu Lebzeiten des Propheten Muhammad waren es nicht eine Million gläubige
Menschen, aber immerhin bereits mehrere Tausend. Vor dieser Pilgergemeinde hielt
der Prophet Muhammad eine Ansprache. Dies geschah im Jahre 632. Und damit wären
wir bei dem angekündigten Wort. Der Prophet sprach zum Abschluss seiner Rede
folgende Worte:
"O ihr Menschen! Euer Herr und Erhalter ist Einer, und euer Urahn ist einer.
Ihr alle stammt von Adam ab, und Adam wurde aus Erde erschaffen. Und daher
gibt es keine Überlegenheit von einem Araber über einen Nicht-Araber oder von
einem Nicht-Araber über einen Araber, und auch nicht von einem weiss
en über
einen Schwarzen oder von einem Schwarzen über einen weiss
en. - Der einzige
Unterschied in der Stellung wird durch das Gottesbewusstsein bestimmt. Denn der
Ehrwürdigste von euch ist derjenige mit dem tiefsten Gottesbewusstsein..."
Das waren die Worte des Propheten vor einer Gemeinschaft von Muslimen, die
schon damals - wie man heute vielleicht sagen würde - multiethnisch und
multikulturell war. Neben den verschiedenen arabischen Stämmen, die sich vordem
bekriegt hatten und nun durch den Glauben geeint waren, gehörten von Beginn an
zu dieser Gemeinschaft auch beispielsweise Perser, Griechen und Afrikaner.
Die Worte, die diese Menschen aus dem Munde des Propheten vernahmen, waren
gewissermassen eine Interpretation der Worte Gottes. Denn Gott selbst hatte diese
Botschaft an die Menschen herabgesandt. So heisst es im Koran in der 49. Sure
(also im 49. Kapitel), Vers 13:
"O ihr Menschen! Wir erschufen euch aus Mann und Frau und machten euch zu
Völkern und Stämmen, damit ihr einander kennenlernt. Doch der von Gott am
meisten Geehrte von euch ist der Gottesfürchtigste unter euch. Gott ist fürwahr
wissend, kundig." (Koran 49:13)
"O ihr Menschen!" - Diese Worte Gottes sind nicht nur an Muslime, sondern an
alle Menschen gerichtet. Muslime bilden eine Gemeinschaft von Brüdern und
Schwestern, aber diese ist zugleich Teil der gröss
eren Gemeinschaft aller
Menschen.
Denn alle Menschen sind aus Mann und Frau gleich als Menschen erschaffen.
Ihrem Wesen nach sind daher alle Menschen gleich. Und das sollte eigentlich
schon die erste Grundlage bilden für eine geschwisterliche Begegnung zwischen
uns Menschen. schliess
lich gehören wir alle zur gleichen Familie der Menschheit.
So einfach diese Worte in manchen Ohren klingen mögen, so schwierig ist es, sie
in die Tat umzusetzen, und so wichtig ist es, diese immer wieder zu betonen.
Denn zwischen Menschen sind gerade solche einfachen Wahrheiten, die manches Mal
mit einem blossen Achselzucken abgetan werden, von gröss
ter Bedeutung.
Wer seinem Mitmenschen in diesem Licht begegnet, wird erkennen, dass die
Unterschiede in unserem Aussehen, unserer Sprache oder unseren Sitten und
Gebräuchen von Gott geschaffen sind, der uns eben zu verschiedenen Völkern und
Gesellschaften gemacht hat. Und warum? "Damit wir einander kennenlernen!", wird
uns gesagt. Können wir diese Worte begreifen und umsetzen?
Ethnische, sprachliche und kulturelle Unterschiede sind also nichts
Schlechtes, sondern ganz natürlich. Und sie dürfen nicht dazu missbraucht werden,
völkische Überlegenheit, Nationalismus oder Rassismus zu rechtfertigen. Sie
sollten vielmehr als Brücke zwischen den Menschen dienen, damit sie einander
kennenlernen.
An einer anderen Stelle im Koran, an der einige Zeichen Gottes für die
Menschen angeführt werden, heisst es dazu:
"Zu Seinen Zeichen [also den Zeichen Gottes für die Menschen] gehört, dass
Er euch aus Erde erschaffen hat. Dann wurdet ihr Menschen, die sich verbreiten."
(Koran 30:20)
Und einen Vers weiter:
"Zu Seinen Zeichen gehört die Schöpfung der Himmel und der Erde und die
Verschiedenartigkeit eurer Sprachen und eurer (Haut-) Farben. Darin sind fürwahr
Zeichen für die Wissenden." (Koran 30:22)
Darin liegt eine gross
e Lehre für die Menschen. Ihre Unterschiede dürfen nicht
länger Anlass sein, sich in Hochmut oder falschem Stolz zu ergehen. Hier darf
eine Einstellung keinen Platz haben, die besagt: "Unsere Gruppe ist besser als
eure". Damit muss Schluss sein.
Aber es gibt viele Menschen, die andere nach diesen Kategorien beurteilen, in
höher- und minderwertig klassifizieren und daraus eine Rechtfertigung ableiten,
anderen Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt anzutun. Der Rassismus ist eine der
hauptsächlichen Quellen für unsägliches Leid, ja sogar eine gross
e Gefahr für die
Zukunft der Menschheit.
Vor Gott jedoch verleihen Sprache, Kultur oder Hautfarbe einem Menschen
keinen besonderen Wert. Noch einmal die Worte aus dem Koran:
"Doch der von Gott am meisten Geehrte von euch ist der Gottesfürchtigste
unter euch. Gott ist fürwahr wissend, kundig." (Koran 49:13)
Als Massstab der Bewertung jedes einzelnen Menschen - und nicht einer Gruppe -
dient hier einzig das Gottesbewusstsein jedes einzelnen, das von schlechten Taten
fern- und zu guten Taten anhält.
Dieses Kriterium - das Gottesbewusstsein - entzieht sich zudem dem
menschlichen Urteil. Auch wenn es sich in Handlungen manifestiert, so ist die
wahre Absicht doch im Herzen verborgen. Und die Herzen kennt Gott allein. In
diesem Sinne beurteile oder bewerte also kein Mensch den anderen!
Für die Unterdrückten und Geknechteten erscheint der Islam daher als eine
befreiende Botschaft. Denn er sagt zu ihnen:
"Alle Menschen sind gleich, besitzen den gleichen Wert, die selbe Würde als
Menschen. Ihr seid nicht minderwertig, weil ihr vielleicht eine schwarze
Hautfarbe habt. Wenn ihr unterdrückt und ausgebeutet werdet, dann geschieht euch
Unrecht!"
Diese Erfahrung lässt sich beispielsweise in der Lebensbeschreibung von
Malcolm X nachlesen. Sie wird darin sehr eindrucksvoll geschildert. Der Kinofilm
dazu, der vielleicht noch bekannter ist als das Buch, gibt das nur begrenzt
wieder.
Der Islam verleiht jedem Menschen als Geschöpf Gottes, das Gott aus Erde
erschaffen und von Seinem Geist eingehaucht hat, eine unantastbare Würde. Würde
im vollen Sinne gibt es aber nur in Gerechtigkeit. Im Schutz der Würde liegt
daher zugleich der Aufruf, gerechte Verhältnisse zu schaffen. Unrecht und
Ungerechtigkeit entsprechen nicht dem Willen Gottes, dem zu folgen sich alle
Gläubigen verpflichten. Die Islamische Glaubensbezeugung, die in ihrem ersten
Teil lautet: "Es gibt keinen Gott auss
er Gott" - auss
er Allah
, dem einen und
einzigen Gott -, und durch deren aufrichtiges und bewusstes Aussprechen übrigens
ein Mensch zum Muslim wird, schliesst daher zugleich auch die Verpflichtung zum
tatkräftigen Einsatz für die Gerechtigkeit ein. Denn Gott gebietet Gerechtigkeit.
Im Koran heisst es:
"Gott gebietet Gerechtigkeit zu üben und Gutes zu tun." (Koran 16:90)
Die Verbindung der starken Botschaft der Gleichwertigkeit der Menschen mit
der Aufforderung, Gerechtigkeit herzustellen, hat dazu geführt, dass die
Botschaft des Islam in den jeweiligen Gesellschaften sehr unterschiedlich
aufgenommen wurde. Herrscher und Mächtige, deren soziale Stellung und Reichtum
von der Aufrechterhaltung der ungerechten Zustände abhing, sahen in ihr oftmals
eine Bedrohung, wohingegen die Elenden, Unterdrückten und Geknechteten im Islam
eine Botschaft der sozialen und geistigen Befreiung erkannten.
Natürlich setzten die sich in ihrer Machtstellung bedroht fühlenden Herren
alles daran, den wahren Inhalt dieser Botschaft vor den Augen ihrer Untertanen,
die ja von dem befreienden Ruf angesteckt werden könnten, zu verschleiern und zu
verzerren. Und immer wieder kam es auch vor - und zwar bis heute -, dass der
Islam selbst entstellt und in den Dienst der Rechtfertigung einer ungerechten
Herrschaft gestellt wurde.
Die Geschichte des Islam ist von diesem Spannungsverhältnis zutiefst geprägt.
Auch wenn heute die westlichen Medien nichts unversucht lassen, das Bild des
Islam bis zur Unkenntlichkeit zu verstümmeln, erkennen doch beispielsweise immer
mehr Afro-Amerikaner, also Amerikaner afrikanischer Herkunft, die in der us-amerikanischen
Gesellschaft in vielfältiger Weise rassistischer Unterdrückung ausgesetzt sind,
im Islam das Versprechen auf Befreiung. Malcolm X als den berühmtesten habe ich
schon erwähnt. Auch in Afrika findet der Islam besonders starken Zuspruch, ist
Afrika doch zweifellos der Kontinent, auf dem die Menschen von der
Globalisierung genannten Ausbeutungsmaschinerie am meisten geschunden und in
ihrer Würde am tiefsten verletzt werden.
Dass dies einen Wesenszug des Islam bildet, zeigte sich auch schon zu Beginn
des Prophetentums von Muhammad in Mekka. Viele der reichen Einwohner dieser
Stadt, die der egalitären Botschaft des Islam feindlich gesonnen waren, hielten
Sklaven, von denen manche allerdings den Ruf vernahmen und sich zum Islam
bekehrten. Wenn alle Mittel der Täuschung und Verdrehung versagten, griffen die
Sklavenhalter zur nackten Gewalt, um ihr menschliches Eigentum von dem neuen
Glauben abzubringen.
So widerfuhr es einem afrikanischen Sklaven namens Bilal. Er stammte aus
Abessinien, dem heutigen Äthiopien. Dass er zu einem überzeugten Gläubigen
geworden war, war für seinen Herrn Anlass genug, ihn in der mittäglichen
Gluthitze Mekkas auf einen offenen Platz zu treiben. Dort warf dieser Bilal auf
die sonnenheisse Erde und presste ihn mit einem gross
en Stein auf seiner Brust zu
Boden. Er wollte ihn so lange in seinen Folterqualen liegen lassen, bis er
entweder sein Leben verlor oder seinem Glauben abschwor. Doch der gläubige
Afrikaner weigerte sich, dies zu tun, und blieb standhaft.
Als einer der engsten Vertrauten des Propheten Muhammad, nämlich Abu Bakr,
vorbeikam und sah, wie Bilal gequält wurde, war er entsetzt und sorgte für
dessen Freilassung. Bilal, der ehemalige afrikanische Sklave, wurde so zu einem
der Gefährten des Propheten und, da er eine schöne und kräftige Stimme besass,
zum ersten Gebetsrufer des Islam.
Auch hier zeigt sich beispielhaft, dass der Islam eine egalitäre, befreiende
und universelle Botschaft ist. Sie ist egalitär, weil sie die Gleichheit aller
Menschen verkündet. Sie ist befreiend, weil sie dem Prinzip der Gerechtigkeit
folgend allen Verhältnissen, in denen der Mensch ein geknechtetes, unterdrücktes
und ausgebeutetes Wesen ist, den Kampf ansagt. Und sie ist universell, weil sie
sich unterschiedslos an alle Menschen richtet. Diese Botschaft war die treibende
Kraft bei der raschen Ausbreitung des Islam - und nicht "Feuer und Schwer", wie
immer wieder irreführend behauptet wird.
So breitete sich der Islam in wenigen Jahren von der arabischen Halbinsel bis
zum Atlantik im Westen und dem Chinesischen Meer im Osten aus, von Marokko und
Spanien bis nach Indien und China. Dabei traten die Muslime nicht - wie später
die Europäer - als erobernde Kolonialherren auf. Sie erschienen vielmehr in den
Augen der unterdrückten sozialen und religiösen Gruppen als Befreier, denen sie
die Tore öffneten. Wie sonst sollte die überaus rasche Ausbreitung des Islam
erklärbar sein? Immer mehr Historiker erkennen, dass dies die einzige Erklärung
für ein Phänomen ist, das sonst ein unerklärliches "Wunder" bleiben müsste.
Der Islam kam bei diesem Prozess mit einer Vielzahl verschiedenartiger
Kulturen und Gesellschaften in Berührung. Da er diesen nicht mit einem
religiösen oder zivilisatorischen Missionierungseifer begegnete, sondern mit der
Achtung vor der gottgewollten Verschiedenartigkeit kam es zu originellen und
harmonischen Verschmelzungen der universellen Botschaft des Islam mit den
jeweiligen Kulturen. Der Islam blieb sich in seinem Wesen treu, legte aber
verschiedene kulturelle Gewänder an: Einheit in der Vielfalt.
Einheit und Vielfalt in der weiten muslimischen Welt - bis heute - sind
Ergebnis und Ausdruck dieses lebendigen Prozesses. Dass dies geschehen konnte,
ist kein Zufall, sondern liegt vielmehr in der Natur des Islam selbst begründet.
Denn er ist als universelle Botschaft eben nicht auf eine Kultur oder
Gesellschaft beschränkt, sondern für alle Menschen in allen Kulturen und
Gesellschaften gleichermassen gültig und lebbar.
Der Grund dafür lässt sich an einer allgemeinen Regel des Islamischen Rechts
verdeutlichen. Diese Regel besagt: Alles ist erlaubt, was nicht ausdrücklich
verboten ist. Dahinter steht die Islamische Vorstellung, dass die Welt von Gott
zum Wohle des Menschen erschaffen wurde, die Welt an sich also gut ist. Daraus
leitet sich ein äusserst dynamisches Prinzip ab. Die Muslime treten der Welt
daher mit "offenen Armen" entgegen. Damit konnte sich der Islam alles
anverwandeln, was ihm in gleich welcher Kultur - von der arabischen über die
afrikanische, indische und chinesische bis hin zur europäischen Kultur -
begegnete, solange dies freilich nicht bestimmten religiösen und ethischen
Geboten widersprach. Das wichtigste ethische Prinzip, das der Gerechtigkeit,
haben wir bereits erwähnt. Dadurch eröffnete sich ein riesiger Horizont des
Möglichen und Erlaubten, aus dem die wunderbaren Blüten vielfältiger
wechselseitiger Befruchtungen der Kulturen in allen Bereichen des menschlichen
Lebens hervorsprossen.
Eine dieser hybriden, vielfältig befruchteten Pflanzen gedieh auch auf
europäischem Boden, in Spanien zwischen 711 und 1492, also immerhin mehr als 700
Jahre lang. Das Islamische Spanien erlebte eine ungeheuer fruchtbare Verbindung
asiatischer, afrikanischer und europäischer Kulturen. Philosophie, Universitäten,
Rationalität und Humanismus bezeichnen stichwortartig nur einige der kulturellen
Einflüsse, die für die spätere Entwicklung Europas so entscheidend werden
sollten.
Neben diesem kulturellen Pluralismus entfalteten sich zugleich auch die
verschiedenen Religionen. Da sie nach Islamischem Verständnis aus der gleichen
Wurzel stammten, nämlich aus den im Laufe der Geschichte wiederkehrenden
Offenbarungen des einen und einzigen Gottes, genossen die anderen Religionen in
den Augen der Muslime mehr als blosse Toleranz: nämlich Anerkennung. In Spanien
galt dies ganz besonders für die beiden Buchreligionen Judentum und Christentum.
Deren Propheten wie Moses und Jesus werden auch im Islam als Propheten anerkannt,
und ihre Bücher gehen nach Islamischer Lehre auf authentische Offenbarungen
zurück.
Daher wurden Kirchen und Synagogen unter Schutz gestellt. Juden wie Christen
konnten unter diesen Bedingungen ein reiches religiöses, kulturelles und
geistiges Leben entfalten. Sie konnten in aller Regel ihre Angelegenheiten nach
ihren eigenen Vorstellungen und Gesetzen in grösstmöglicher Autonomie verwalten.
Kultureller Pluralismus und religiöse Vielfalt gedeihen zusammen am besten,
ja ergänzen und bedingen sich gegenseitig. Diese Freiheit hatte es vor der
Islamischen Zeit in Spanien, eigentlich im ganzen Mittelmeerraum und Europa
nicht gegeben. Das Römische Reich und die Katholische Kirche hatten Völker und
religiöse Gruppen erbarmungslos verfolgt und unterdrückt. schliess
lich wurde auch
die gar nicht so junge Blüte des Islamischen Spanien unter den Stiefeln der aus
dem Norden einfallenden Eroberer zertrampelt. Juden und Muslime wurden aus
Spanien vertrieben, zwangskonvertiert oder einfach vernichtet. Die Sieger
nannten dies "Reconquista" - Wiedereroberung -, so als könnte die
jahrhundertelange Islamische Geschichte Spaniens einfach ausgelöscht werden.
Die sogenannte Reconquista fand parallel zu den Kreuzzügen statt, ja lässt
sich als deren "Westfront" begreifen. Mit den Kreuzzügen wurde vor tausend
Jahren der Prozess eingeleitet, in dem Europa in einem explosiven Moment seiner
Geschichte zu sich selbst fand und zugleich ausgriff, um in gigantischer
Überheblichkeit den "Rest der Welt" zu erobern oder zu vernichten. Hier, in
dieser Konfrontation mit der Islamischen Welt liegen die Wurzeln des
tausendschährigen Kolonialunternehmens Europas und die Ursprünge des europäischen
Rassismus.
Wenn heute in Deutschland oder sonstwo in Europa eine Synagoge von "Rechtsradikalen"
in Brand gesteckt oder ein muslimischer Flüchtling in irgendeinem
brandenburgischen Dorf von einer Horde Jugendlicher zu Tode gehetzt oder vom
Innenminister in den Tod abgeschoben wird, dann befällt hoffentlich nicht nur
Juden und Muslime die grauenvolle Last dieser tausendschährigen Erinnerung. Das
ist das Vermächtnis Europas an seine Opfer.
Aber das ist nicht das einzige Vermächtnis Europas. Neben dem Kältestrom von
Rassismus und Nationalismus, der im 20. Jahrhundert auch Europa selbst verwüstet
und unsägliches Leid verbreitet hat, gibt es den Wärmestrom eines echten
Humanismus, der dem Anspruch der Menschenwürde gerecht zu werden versucht. Für
den gross
en Wärmestrom der humanisierenden Kraft in der europäischen Zivilisation
kann und darf nicht eine einzige Tradition exklusives Besitzrecht erheben. - An
diesem Erbe haben neben dem aufklärerischen und säkularistischen Rationalismus
auch Judentum, Christentum und - der wohl am stärksten verdrängte Quell der
europäischen Zivilisation - der Islam teil, wie freilich auch die chinesische,
indische, arabische und afrikanische Kultur. Die Anerkennung dieser Tatsache
könnte einen wichtigen Schritt auf dem Weg der ausstehenden Entwicklung eines
kulturellen und religiösen Pluralismus auf europäischem Boden sein. Vor dieser
Aufgabe stehen wir heute.
Die deutsche Gesellschaft ist sich der Tatsache, dass verschiedene Kulturen
und Religionen in ihrem Innern anwesend sind, erst jüngst bewusst geworden. Die
Debatte über den Umgang mit dieser Realität wird zumindest teilweise mit sehr
scharfen Tönen und auch nicht ausbleibenden Handgreiflichkeiten geführt.
Hier ist es Aufgabe und Verantwortung all derer, die sich den Prinzipien der
Gerechtigkeit und Menschenwürde verpflichtet wissen - seien es Juden, Christen,
Muslime oder Humanisten -, klar und deutlich Stellung zu beziehen. Mal getrennt,
jeder auf seine Weise, mal gemeinsam - aber immer in dem Bewusstsein, gemeinsam
an der gross
en Aufgabe mitzuwirken, dem Wärmestrom in der europäischen Geschichte
zum Durchbruch zu verhelfen.
Wir alle leben in und mit dieser Geschichte. Wir müssen ihr ins Auge sehen,
damit wir ihr eine neue Wendung geben können. Zuschauen und Schweigen ist
Mittäterschaft. Das ist unsere Verantwortung als Menschen, die Gewissen und
Moral noch nicht an den Nagel von Profit und Macht gehängt haben und im Anderen
noch einen Menschen mit der ihm eigenen Würde erkennen können - und nicht bloss
eine lästige Zecke, die wir beiläufig zerquetschen, was immer mehr zur
Normalität zu werden droht. Wir müssen uns fragen lassen, ob wir die vergangenen
tausend Jahre mit all ihrem Leid und Grauen noch einmal leben und sterben lassen
wollen.
"Dieser Kreuzzug wird eine Weile dauern"
Wie sehr dies auch im globalen Massstab gilt, bewiesen - hätte es noch eines
weiteren Beweises bedurft - die schrecklichen Anschläge in den USA und die
Reaktionen darauf.
Zunächst einmal sei klargestellt: Die Attentate in den USA sind aufs
Schärfste zu verurteilen. Alle Menschen, die auch nur einen Funken
Menschlichkeit und Mitgefühl in sich tragen, waren über den Tod tausender
unschuldiger Menschen aus allen Kontinenten und Religionen erschüttert und
entsetzt. Und gewiss kann keine wohlverstandene Religion dazu dienen, ein
solches Morden zu rechtfertigen.
Im Islam heisst es ganz ausdrücklich, im Koran in Sure 5, Vers 32:
"Wer einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen oder
Unheil im Lande angerichtet hat, soll wie einer sein, der die ganze Menschheit
ermordet hat. Und wer ein Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze
Menschheit am Leben erhalten." (Koran 5:32)
Hier wird der Wert des Menschenlebens - des Lebens eines jeden Menschen
gleich welcher Herkunft, Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit - mit aller
Deutlichkeit unterstrichen. Im Lichte dieses Verständnisses von Menschenwürde
und dem Wert menschlichen Lebens müssen wir die Attentate in den USA eindeutig
als "Verbrechen gegen die Menschheit" brandmarken. Und die Täter müssen
ausfindig gemacht, vor Gericht gestellt und verurteilt werden, so dass sie,
nachdem ihre Schuld bewiesen ist, ihre gerechte Strafe ereilt.
Bis heute fehlen eindeutige Beweise. Doch schon unmittelbar nach den
Anschlägen standen die "üblichen Schuldigen" fest. Alle Finger zeigten auf die
Muslime und den Islam. Die rechtsstaatlich gebotene Unschuldsvermutung wurde
eilends auss
er Kraft gesetzt. Schuld war nicht, wem die Schuld nachgewiesen
werden konnte, sondern wer schon immer dafür galt. Das Feindbild stand bereit,
es musste nur abgerufen werden. Vor nicht allzu langer Zeit wären es die
Kommunisten gewesen. Aber nach dem Zerfall der Sowjetunion geht es heute nicht
mehr gegen die "rote", sondern gegen die "grüne Gefahr".
Und in dieser "grünen Gefahr" verkörpere sich das Böse schlechthin. Der
amerikanische Präsident George W. Bush rief sogleich zum "Krieg gegen das Böse"
auf. Die Terroristen hätten die "zivilisierte Welt" ins Visier genommen, um
deren Werte von Freiheit und Demokratie zu bekämpfen. Der deutsche Bundeskanzler
gab die Parole vom "Krieg gegen die gesamte zivilisierte Welt" aus. Und auf
einen Schlag drehte sich der gesamte politische Diskurs mit unglaublicher und
erschreckender Selbstverständlichkeit um die Achse "Zivilisation versus Barbarei".
Die Bild-Zeitung titelte "Terror-Bestien" - das waren Bestien, keine Menschen.
Und in endlosen Wiederholungen wurden uns allen die Gesichtszüge dieser Barbaren
ins Hirn gebrannt: Araber, Muslime, Dunkelhäutige... Jeder konnte nun einer
dieser Bestien sein. Alle, die diesem brutalen Raster aus der Mottenkiste des
primitivsten Rassismus vermeintlich entsprachen, gerieten in den Verdacht, sich
in jedem Augenblick in menschliche Zeitbomben verwandeln zu können. Der Begriff
des "Schläfers" machte die Runde.
Und das alte Stichwort, das fallen musste, kam Mister Bush über die Lippen:
Der Krieg gegen das Böse sei ein Kreuzzug. Er sprach: "Dieser Kreuzzug wird eine
Weile dauern. Wir werden die Welt von den Übeltätern befreien."
Dazu schreibt Tom Schimmeck in einem Artikel der Wochenzeitung "Die Woche"
vom 21.09.01:
"Das Böse stand noch im Schatten. Und hatte doch längst ein Gesicht: Es trug
einen langen Bart, ein Hütchen auf dem Kopf, ein weites Gewand. Es schreit gern,
hält schrille Parolen in unlesbaren Schriftzeichen hoch und ballt dazu die
Faust. Es ist Klischee plus Grauen: der Islamistische Krieger, die 'Terror-Bestie',
die den Krummsäbel gegen Flugzeuge eingetauscht hat."
Und er erinnert daran, dass es sich nicht um ein neues Feindbild handelt,
sondern um das älteste, das Europa kennt. Denn das Feindbild des Islam und der
Muslime stand an der Wiege des erwachenden europäischen Selbstbewusstseins:
keine europäische Identität ohne anti-Islamischen Rassismus, so bitter ist die
Wahrheit.
Tom Schimmeck fasst diesen Gedanken in folgende Worte:
"Der Westen wütet. Der Schrecken war heftig genug, seine Urangst zu erwecken.
Sein Bodensatz wird aufgewühlt. Und plötzlich sieht er den Muslim wieder,
überall, von Nigeria bis Indonesien. Will er uns, der freien, zivilisierten
Welt, an die Gurgel? Sei doch kein Muselmann, der das nicht lassen kann...
Der Blick geht 1000 Jahre zurück: Die erste Tat des Westens war ein heiliger
Krieg. Er stand an seiner Wiege, ist sein Kindheitsmuster."
Diese Urangst, einmal erweckt, rief sogleich die heftigsten Reaktionen hervor.
Wer damit spielt, muss wissen, welche Taten auf solche Worte folgen. Heute wie
damals richtet sich die blindwütige Gewalt zunächst gegen "das Böse im Innern".
Im Europa zu Beginn des zweiten Millenniums traf es zuerst die Juden, sie wurden
zu Tausenden massakriert. Im Westen zu Beginn des dritten Millenniums trifft es
zuerst die im Westen lebenden Muslime und alle, die der rassistische Wahn mit
ihnen in einen Sack steckt. So wurden in den USA in einem ersten Ausbruch des
Hasses nicht nur Muslime ermordet, sondern auch ein Sikh.
Hören wir noch einmal Tom Schimmeck:
"Da vermischt sich die neue Angst mit der alten zu einem schier unerträglichen
Gebräu. Schon fliegen Molotow-Cocktails gegen Moscheen, Steine gegen muslimische
Schulkinder, füllen sich Postkästen und Anrufbeantworter Islamischer
Einrichtungen mit Hasstiraden. ‚Ich bin stolz, Amerikaner zu sein', ruft einer,
der gegen eine Moschee in Chicago loszieht, ‚und ich hasse Araber.'"
Welche Zerstörungsgewalt werden diese Wellen des Hasses annehmen, wenn sie
schliess
lich nach aussen branden? Das Massaker an den europäischen Juden zu Beginn
des vergangenen Jahrtausends war ja auch nur das Vorspiel, für einen sehr viel
gewaltsameren und langwierigeren Krieg. Denn auch am Ziel angekommen
schlachteten die Kreuzfahrer Muslime wie Juden massenhaft dahin.
Und richtig besehen, hat dieser Krieg eigentlich nie geendet. Als sich
Westeuropa aus dem Blutbad der Kreuzzüge und der Reconquista erhob, griff es
sogleich nach Amerika, Afrika und Asien aus, um Reichtümer anzuhäufen und den
Rest der Menschheit zu unterwerfen, zu missionieren, zu versklaven und notfalls
zu erschlagen. Von den Einwohnern Amerikas, die man irrtümlich Indianer nannte,
liess man nur einzelne Exemplare am Leben, und sperrte sie in Reservate oder
ethnologische Museen. Für den Westen bestand der "Rest der Menschheit"
bestenfalls aus Untermenschen, wenn nicht schlicht aus Bestien.
Diese Menschenverachtung, diese ungeheuerliche Gewalt, dieser Hass zeugten
wiederum Hass und Gewalt. Das 20. Jahrhundert, das wohl grauenvollste
Jahrhundert in der Geschichte der Menschheit, bezeugt dies mit seinen Kriegen
überall auf der Welt, auch in Europa selbst, das von verheerenden Kriegen fast
vollständig zerstört wurde. Gewalt nach aussen und Gewalt nach innen mit ihrer
selbstzerstörerischen Kraft bedingen sich gegenseitig, lassen sich nicht
voneinander trennen.
Und so lässt sich auch, wenn wir nach den Ursachen der jüngsten Gewalt in den
USA fragen, vor diesem Hintergrund keine eindeutige Antwort geben. Zunächst sei
nochmals klargestellt: Es kann sich niemals um eine Rechtfertigung handeln, die
Anschläge sind durch nichts zu rechtfertigen. Aber wenn wir nicht nach den
Ursachen fragen, um eine Erklärung geben zu können, werden wir auch der darin
liegenden Gefahr nicht Einhalt gebieten können. Die europäische Urangst gegen
den Islam und der älteste Hass sind gewiss schlechte Ratgeber und liegen zudem
womöglich selbst am Grunde des Problems. Wir müssen jetzt besonnen die Ursachen
untersuchen und nach Abhilfe suchen. Nur so können wir dem von vielen
beschworenen 3. Weltkrieg wehren, der die ganze Menschheit, uns alle, in den
tiefsten Abgrund zu reissen droht.
Wenn man die Lage unvoreingenommen betrachtet, lässt sich nicht ohne weiteres
sagen, ob die Gewalt von innen, d.h. als selbstzerstörerische Kraft, oder von
aussen kommt. Obwohl geradezu eine mediale Lawine von echten oder scheinbaren
Indizien über uns hereinbricht, muss es doch, solange keine stichhaltigen
Beweise vorliegen, erlaubt sein, wenigstens Zweifel anzumelden. Ist wirklich in
alle Richtungen ermittelt worden oder hat man sich verblenden lassen?
Gibt es nicht auch eine gross
e Angst davor, überhaupt in Betracht zu ziehen,
dass die Gewalt von innen kommen könnte? Wäre das nicht noch schlimmer? Wie beim
Bombenattentat in Oklahama: auch da wurden zuerst die "üblichen Muslime"
verdächtigt - und schliess
lich wurde der Schuldige als weiss
er, christlicher
Amerikaner aus dem Umfeld rechtsradikaler Milizen identifiziert. Kenner dieser
Szene sagen, dass sie diesen Kreisen derartige Anschläge durchaus zutrauen. In
der Öffentlichkeit werden auch noch weitere mögliche Urheber gehandelt: von
ehemaligen KGB-Agenten über den israelischen Geheimdienst Mossad bis hin zu der
Vermutung, es könne sich um faschistische Kräfte in Verbindung mit Teilen des
militärisch-industriellen Komplexes in den USA handeln.
Also es gibt durchaus berechtigte Zweifel, und noch keine stichhaltigen
Beweise. Aber eines ist zweifelsfrei gewiss: die Unschuld des afghanischen
Volkes. Es soll für etwas bezahlen, das es nicht begangen hat. Ohne die
Unterstützung Pakistans, Saudi-Arbiens und vor allem der USA gäbe es die Taliban
nicht - und übrigens auch Ben Laden nicht, der ja erst durch die amerikanische
Unterstützung im Krieg gegen die Sowjetunion gross
wurde.
Das afghanische Volk hat über 20 Jahre Krieg hinter sich, ist ausgehungert
und völlig mittellos. Mittlerweile sind Millionen von Menschen bereits auf der
Flucht. Ein Militärschlag gegen unschuldige Zivilisten kann nur in eine
gigantische humanitäre Katastrophe münden, die niemand wollen kann. Oder wird
das Leben von Menschen doch mit zweierlei Mass gemessen, wie viele befürchten?
Das darf nicht sein. Wenn wir die Attentate in den USA als Verbrechen gegen
die Menschheit bezeichnen und unsere tiefste Anteilnahme für die Opfer und
Hinterbliebenen zum Ausdruck bringen, ist doch zugleich die Solidarität mit
allen Opfern brutaler Gewalt geboten, und zwar aufgrund des universellen
Prinzips der Menschenwürde. Da dürfen uns die Opfer in den USA nicht mehr und
nicht weniger wert sein als die zu befürchtenden Opfer drohender amerikanischer
Militärschläge in Afghanistan und andernorts, wie auch die Opfer vergangener
Konflikte und Kriege, seien es die Tausenden Opfer der israelischen Besatzung in
Palästina und in den palästinensischen Flüchtlingslagern, seien es die Opfer der
grauenvollen Massaker in Ruanda oder Algerien - oder seien es die Opfer des
nicht enden wollenden Krieges gegen den Irak, der von den westlichen Medien fast
unbemerkt in den letzten zehn Jahren mehr als eine Million Menschenleben,
Daarunter allein 500 000 Kinder, gefordert hat.
Und auch an die ganz unspektakulären Opfer eines stillen und zugleich
massenhaften Sterbens sei erinnert. Im kürzlich erschienenen
Unicef-Jahresbericht zur Situation der Kinder in der Welt 2001 wird festgestellt,
dass jeden Tag 30 000 Kinder unter 5 Jahren an Hunger, Gewalt, Aids und Kriegen
sterben. 30 000 Kinder unter 5 Jahren sterben jeden Tag, das sind jedes Jahr
fast elf Millionen Kinder.
Müssen wir uns angesichts dieser grauenvollen, aber alltäglichen Realität
wundern, wenn dem Westen vom "Rest der Welt" Doppelzüngigkeit, Doppelstandards
und Heuchelei vorgeworfen wird? Kann es ein Menschenleben geben, das wertvoller
ist als ein anderes - bloss weil es vielleicht eine andere Hautfarbe, Kultur
oder Religion trägt? Wir gedenken der Opfer der Anschläge in den USA. Aber wie
zeigen wir den Opfern in Asien, Afrika und Südamerika, dass wir uns der
sinnlosen Logik dieses Krieges widersetzen? Wie können wir deutlich machen, dass
für uns das Leben eines unschuldigen Amerikaners genauso wertvoll ist wie das
Leben eines unschuldigen Ruanders, Palästinensers, Irakers oder Afghanen?
Und müssen wir nicht auch lernen, unseren Blick zu erweitern? Können wir es
uns erlauben, die Welt weiterhin mit unserer eurozentrischen Brille zu
betrachten? Nehmen wir sie ab! Dann werden wir erkennen, dass die Jahrzehnte des
Friedens, die hinter uns liegen, aus der Sicht der meisten Menschen auf der Welt
in Wirklichkeit eine lange Epoche des Krieges war. Dem müssen wir ins Auge sehen,
wenn wir die Ursachen für uns überraschend und unerklärlich erscheinende
Gewaltausbrüche erkennen wollen. Die Pax Americana ist erschüttert worden, der
Krieg hat Amerika selbst heimgesucht, oder wie der amerikanische Intellektuelle
Noam Chomsky sagt: "Die Kanonen haben sich gedreht!".
Für den Süden war die Pax Americana eh immer gleichbedeutend mit einem
namenlosen Krieg, der täglich Tausende tötet. In der deutschen und auch in der
europäischen Öffentlichkeit sind nach dem ersten Schock die Stimmen immer lauter
geworden, die besonnen und rational nach einer Erklärung suchen, statt in die
Kreuzzugsfanfaren mit einzustimmen. Es gibt guten Grund für die Hoffnung, dass
sich nur ganz wenige vom beschwörenden Geschrei des "Zusammenpralles der
Zivilisationen" mitreissen lassen.
Der Vorstellung, dass die westliche Welt mit ihrem Wertesystem in totalem
Gegensatz zu einer "Islamischen Welt" stehe und daher mit dieser zusammenprallen
müsse, was die bekannten gewaltsamen Verwerfungen nach sich ziehe, ist weithin
recht schnell eine Absage erteilt worden. Man darf eine Zivilisation, ihre
Geschichte und ihre über 1 Milliarde Anhänger nicht wegen des Verhaltens einer
winzigen Minderheit verurteilen. Die Mehrheit der Muslime, die unter der
Herrschaft diktatorischer Regimes leiden, die vom Westen unterstützt werden,
schätzen die Werte der Demokratie, der Freiheit und der Menschenwürde sehr hoch
und kämpfen dafür, dass sie in ihrer Gesellschaft geachtet und umgesetzt werden.
Auch in den westlichen Gesellschaften hätte die Stigmatisierung und
Verteufelung des Islam und der Muslime fatale Folgen. Sie zöge tiefe Risse nach
sich. Bundespräsident Johannes Rau warnte eindringlich: "Wir dürfen uns von
niemandem dazu verleiten lassen, ganze Religionen oder ganze Völker oder ganze
Kulturen als schuldig zu verdammen."
Schlimm wäre es, wenn die schrecklichen Ereignisse uns vergessen liess
en,
welche positive Entwicklung in Europa stattfindet. Viele muslimische Bürger
leben hier und stellen durch ihre Beteiligung am sozialen Leben eine echte
Bereicherung dar. Diese Errungenschaften müssen bewahrt werden. Die Formen
konstruktiver Zusammenarbeit und des Austausches zwischen den verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen darf Daarunter nicht leiden, ja muss ausgeweitet
werden, um der Ächtung und des Ausschlusses eines ganzen Teiles der Bevölkerung
entgegenzuwirken.
Nur so können wir gemeinsam, den Gefahren einer grassierenden Kriegslogik mit
ihren Folgen auch auf dem Gebiet der Innenpolitik entgegenwirken. Die
Beschneidung demokratischer Rechte, die Ausweitung der Überwachung und die
Beschränkung der Bewegungsfreiheit trifft letztendlich alle Bürger gleichermassen.
Und um wie viel mehr gilt dies für die Gefahren eines Krieges, der Gewalt und
Hass mit nichts anderem zu beantworten weiss
als mit Gewalt und Hass. Diese Logik
muss durchbrochen werden, sonst schaukeln wir uns immer tiefer in eine endlose
Gewaltspirale hinein, deren Opfer wir alle, alle Menschen sein werden. Alle
Menschen, die Gewissen und Moral verpflichtet sind, gleich welchen Glaubens oder
Weltanschauung, sollten diese Gefahren gemeinsam bekämpfen, die
Spaltungsversuche zurückweisen und im Dienste des Friedens zusammenarbeiten.
Denn viel wichtiger als die Unterschiede ist, dass wir für die gleichen
Grundwerte eintreten. Lohnt es sich nicht, sich für eine wahrhaft pluralistische
Gesellschaft auf der Grundlage geteilter Grundwerte einzusetzen? Wäre dies nicht
ein gross
er Schritt in die Richtung einer menschlicheren Gesellschaft, in der
Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen herrschen?
Wir alle haben unsere Toten zu beklagen. Lernen wir endlich daraus!
Durchbrechen wir die Spirale von Hass und Gewalt! Wachen wir endlich auf und
begreifen wir, dass es keine geteilte Sicherheit und keinen geteilten Frieden
geben kann. Frieden und Gerechtigkeit ist unteilbar: Nur wenn alle meine
Mitmenschen in wahrhaftem Frieden leben, kann auch ich in Frieden leben!
Lassen Sie mich mit den gleichen Worten schliess
en, mit denen ich begonnen
habe, mit dem Islamischen Gruss:
As-salamu alaikum
Der Friede sei mit euch!
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