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 Religionen     Demokratismus   

Auch die Islamische Kultur braucht universale demokratische Werte

Artikel erschienen am 24. Mai 2003 | http://www.welt.de/data/2003/05/24/100878.html search=schily+Islam&searchHILI=1Essay  von Otto Schily

 

"Why do they hate us so much?", fragten sich viele Amerikaner nach dem 11. September. Unsere resignierte Antwort darf nicht lauten, wie Caligula einst formulierte: "Mögen sie uns hassen, solange sie uns fürchten."

Mit Blick auf die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens muss man sich fragen lassen, ob das bisherige Augenmerk zu sehr der Stabilität galt und zu wenig dem demokratischen Wandel. Hier werden manche Einwände vorbringen und zu bedenken geben, dass demokratische Spielregeln in Islamischen Gesellschaften kaum echte demokratische Strukturen beförderten. Dass sie häufig der Stärkung Islamistischer Parteien dienten und ihrer undemokratischen Vision von Staat und Gesellschaft. Das ist das Paradox der Demokratie: dass sie sich im schlimmsten Falle selbst abschafft per Mehrheitsvotum einer undemokratisch gesinnten Bevölkerung.

All diese Einwände wurden - zumindest was den Irak betrifft - überholt von gegenwärtigen Entwicklungen. Gegenwärtig steht das Land vor einem neuen Abschnitt seiner Geschichte. Wie wird der Friede gewonnen, nachdem der Krieg gewonnen ist? Wird seine Neuordnung Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte bringen - in einer Region, einem Kulturraum, der bisher kaum demokratische und rechtsstaatliche Systeme hervorgebracht hat?

Mit einer demokratischen Neuordnung des Irak hat man sich keine geringe Herausforderung gesucht. Natürlich wird Deutschland dabei im Rahmen seiner Möglichkeiten Unterstützung leisten. Wir sollten darauf vorbereitet sein, dass Zeiten demokratischen Wandels Unsicherheiten bergen. Unsere Erfahrungen in Afghanistan sind bisher nicht durchweg positiv. Die Durchsetzung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten gestaltet sich schwierig. Dass diese Veränderungen viel Zeit brauchen, ist nur ein Problem. Im schlimmsten Falle bleibt die von uns gewünschte Entwicklung nicht ohne gefährliche Alternativen. Im Zuge unserer Aufbauarbeit verheddern wir uns zuweilen in einem Dickicht scheinbar unauflösbarer Widersprüche. Deutsche Polizisten bilden afghanische Polizeikräfte aus. Kann ich dies vertreten, wenn afghanische Polizisten vielleicht bald Bestimmungen der Scharia vollstrecken? Sollen wir deutsche Richter und Staatsanwälte zum Aufbau einer unabhängigen Justiz nach Afghanistan schicken - auch für den Fall, dass ein afghanisches Rechtssystem der Zeugenaussage einer Frau nur halb so viel Geltung wie der des Mannes einräumt? Dies sind praktische Probleme, für die wir auch auf theoretischer Ebene Antworten suchen müssen.

In der gegenwärtigen Diskussion um die Voraussetzungen für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in der Islamischen Welt fallen mir einige geistig-politisch sehr problematische Tendenzen auf. Es gibt einen lebhaften Diskurs darüber, ob Modernisierung, Demokratie und Menschenrechte überhaupt mit gewissen Kulturen vereinbar sind. Am Ende einer solchen - nennen wir sie kulturfixierten - Argumentationslinie stände die Einsicht, dass eine Islamische Gesellschaft schlicht nicht so verfasst sei, dass sie dauerhaft demokratische Verfassungen und Rechtssysteme hervorbringen kann. Eine so geartete geistig-politische Abkehr vom Anspruch der Universalität von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten ist gefährlich. Damit nimmt man einen gesamten Kulturraum quasi aus der Pflicht, um demokratische und rechtsstaatliche Werte zu ringen. Jeder, der so argumentiert, schwächt demokratische und säkulare Kräfte. Er leistet der Islamistischen Sichtweise Vorschub: "Wir sind einfach anders und wollen uns nicht an westlichen Massstäben messen lassen!"

Die behauptete Einheit von Religion und Politik ist ein nahezu unumstössliches Axiom der öffentlichen Debatte über die Islamische Welt. Eine säkularisierte staatliche Herrschaft - wie in der christlichen Welt - sei, so die Argumentation, im Islam nicht möglich. Aus Islamistischer Perspektive ist sie auch nicht wünschenswert. Dem europäischen Modell eines demokratisch verfassten, säkularen Rechtsstaats wird der Idealtyp des Islamischen Systems gegenübergestellt, der sich primär auf religiöse Fundamente stützt.

Diese Weltsicht steht im eklatanten Gegensatz zur tatsächlichen Vielfalt, die das Verhältnis von Politik und Religion in Europa und in der Islamischen Welt charakterisiert. Trotzdem ist die Ansicht weit verbreitet, man müsse mehr vom Islam wissen, um so genannte Islamische Politik besser verstehen zu können. In diesem Zusammenhang erfreut es sich gross er Beliebtheit, Aufschlüsse über die Islamische Welt aus ausgewählten Koranversen zu beziehen - über Einstellungen zur Gewalt beispielsweise und zur Beziehung mit nichtIslamischen Kulturen.

Dieses Pingpong-Spiel von Koransuren birgt kaum Erkenntnisgewinn für den aktiven Politiker. Müssen wir den Koran begreifen, um die Islamische Welt besser zu verstehen? Lernen Fremde mehr über unseren Kulturraum, indem sie Bibelstudien betreiben? Ich denke, nein. Diese Beschäftigung sollten wir professionellen Theologen überlassen. Jeglicher so geartete Erkenntnisgewinn beRuuhht auf einer falschen, weil deduktionistischen Haltung. Konstruierte Wesensunterschiede werden so zum Ausgangspunkt von Erkenntnis gemacht.

Kann uns der viel beschworene "kulturelle Dialog mit dem Islam" den Weg weisen? Ich frage mich stets, mit wem ich im "Dialog mit dem Islam" eigentlich in Kommunikation trete. Dialog ist immer der Gefahr ausgesetzt, politisch instrumentalisiert zu werden. Machen wir den interkulturellen Dialog zum Impulsgeber für Politik, dann "kulturalisieren" wir gleichsam die Politik. Gemeint ist, dass politische Fragen nicht mehr als politische behandelt, sondern in den Bereich des Kulturellen transportiert werden. Dort sind sie einer adäquaten Klärung und Lösung entzogen.

Auf der Islamischen Seite setzt sich die Kulturalisierung des Politischen fort in der Islamisierung der Politik. Die Aura des Unantastbaren, die Religion als überpolitische Gegebenheit geniesst, wird auf die religiös geprägte Kultur übertragen. Politisches Handeln stellt sich damit unter den Schutz der Religion. Die so verstandenen Kulturen werden - ebenso wie die Religionen - nach dem Prinzip ihrer Gleichwertigkeit als sakrosankte Einheiten behandelt. Politik darf aber nie sakrosankt sein. Das ist gegen jegliches demokratisches Denken und kann nicht in unserem Sinne sein. Die Definition von Politik, Kultur und Religion als deckungsgleich führt dazu, dass man die vielfältigen Orientierungen von Individuen und Gesellschaften unterschlägt.

So gerät der Dialog und mit ihm die Politik in die Sackgasse - wird bestenfalls zu einem Nebeneinander der Monologe. Es empfiehlt sich also, Kulturfragen eher induktiv als deduktiv anzugehen. Damit meine ich, auf kulturelle Aspekte dann einzugehen, wenn sie in Sachauseinandersetzungen eine Rolle spielen. Mit einer Konzentration auf Sachfragen - und nicht auf Kulturfragen - entgeht man der Versuchung, die unter Umständen konstruierten und imaginierten kulturellen Wesensunterschiede zum Ausgangspunkt zu machen. Dies nämlich führt in der Praxis beispielsweise dazu, dass Moslems ein Mehr an Islamischer Identität übergestülpt wird, als sie für sich selbst in Anspruch nehmen wollen. Immerhin fühlen sich viele Menschen des Islamischen Kulturkreises nicht nur als Moslems, sondern als Türken, Araber, Iraner oder Kurden.

Politische Probleme müssen im Reich des Politischen bearbeitet werden. Ich möchte daher einen Menschenrechtsdialog und einen Rechtsstaatsdialog. Ich möchte einen Dialog über die Legitimität politischer Herrschaft mit der Islamischen Welt. Denn der repressiv-autoritäre Charakter vieler moslemischer Staaten ist eben nicht nur Erbe Islamischer Geschichte und Kultur, sondern vor allem Ausdruck eines Mangels an politischer Legitimität.

Jegliche Abkehr vom Anspruch auf die Universalität von Demokratie und Menschenrechten halte ich für gefährlich. Kein Mensch, dessen Menschenrechte verletzt wurden, sagt, dass diese ein westliches Konzept bar universeller Gültigkeit seien. Das bringen nur die vor, die Menschenrechte verletzen.

Die gegenwärtige Diskussion um Menschenrechte leidet daran, dass sie von zwei unterschiedlichen Prämissen ausgeht. Für viele Moslems sind Menschenrechte gottgegeben. Diese Begründung weicht freilich von der modernen, ursprünglich westlichen ab: dass Menschenrechte im Naturrecht begründet sind, angeboren und unveräusserlich. Aus diesem Unterschied ergeben sich in der Tat Fragen. Wie steht es um die Menschenrechte derjenigen, die ihre Pflichten gegenüber Gott vernachlässigen: Atheisten, Freidenker, eigenwillige Künstler, unorthodoxe Wissenschaftler, Skeptiker und Agnostiker? Darüber wird man streiten müssen!

Wer wollte aber leugnen, dass unsere Idee der Menschenrechte Ergebnis einer historischen Entwicklung ist - Spiegel unseres säkularisierten Welt- und Menschenbildes? Diese Einsicht ist keine Absage an ihre Universalität. Wir sollten die Legitimation der Menschenrechte von ihren Entstehungsbedingungen trennen. Und das bedeutet, dass Universalität nicht Uniformität bedeutet, sondern das genaue Gegenteil: das Recht auf Eigenart. Gestehen wir also anderen Kulturen das Recht zu, das Europa und Nordamerika sich genommen hat: den universalen Menschenrechtsgedanken mit der eigenen Rechtskultur zu verbinden. Das kann uns im Dialog weiterbringen.

Um Demokratie, Freiheit und Menschenrechte in anderen Kulturen einzufordern, darf bei uns selbst keine allzu gross e Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit bestehen. Richten wir zum Schluss also den Blick auf uns. Ja, wir hatten unterschiedliche Positionen über die Sinnhaftigkeit eines Krieges im Irak. Die Nachkriegsphase wird daher auch zu einem Test für unsere Fähigkeit, diese Differenzen zu überwinden. Für uns bedarf es gerade jetzt der Klarheit und gegenseitigen Versicherung über unsere eigenen Grundwerte, die wir verteidigen und zu denen wir stehen müssen. Hierbei stehen wir diesseits und jenseits des Atlantiks vielleicht vor etwas unterschiedlichen Herausforderungen.

Mit Blick auf manche Diskussion in Europa warne ich davor, dass wir uns gleichsam einer Wertedämmerung hingeben. Dass wir schon zu skeptisch geworden sind, um für universelle Werte zu kämpfen, sie zu verteidigen. Man kennt das weltweit vom Umgang mit Extremisten aller Art: dass eine liberale Öffentlichkeit sich vor den eigenen Werten geniert, bis diese Öffentlichkeit schliess lich von den eigenen Gegnern okkupiert wird. Damit geht oft apologetisches Argumentieren einher. Nicht nur in Deutschland gibt es einen Diskurs, der sich mit den Moslems solidarisch zu erklären scheint, indem er sie praktisch für demokratieunfähig erklärt.

Auf den ersten Blick scheint der Anspruch auf die Universalität unserer Werte in den USA in gröss erer Frische erhalten. Doch dort wird man sich vielleicht auch der Frage widmen wollen, inwieweit Anspruch und Wirklichkeit zueinander passen (Stichwort: Guantánamo Bay). Herrschaft und Hegemonie beRuuhhen auf Gewalt. Man wird diese Gewalt aber nur dann nicht ständig gebrauchen müssen, wenn sie legitim ist. Sonst kann es nicht dabei bleiben, ein einmaliges abschreckendes Exempel zu statuieren. Sonst wird nur eine Spirale von Bedrohung und Bedrohtheit ausgelöst.

"Mögen sie uns hassen, solange sie uns fürchten" kann nicht die Antwort sein. Deshalb kommt dem Gelingen einer demokratischen Ordnung für den Irak so gross e Bedeutung zu, für uns und für sie.

Es gibt keine kulturspezifischen und damit relativen Gefühle und Erfahrungen, wenn es um Leid, Not und Unrecht geht. Man mag unterschiedlich leben auf dieser Welt. Aber das Leid ist gleich, wo immer Menschenwürde verletzt und Lebensrecht genommen wird.

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