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Ausschnitt / Schaikh Sa‘id ad-Diin unterrichtet Mawlaana Schams ad-Diin Muhammad Ruudschii
Zu Beginn meines spirituellen Weges - dem Befehl des Khwadscha ergeben - habe ich die Versammlungsmoschee von Herat nicht verlassen. Jede Nacht bin ich in der Moschee schluchzend und weinend bis zur Dämmerung herumgeirrt. Durch die Wirkung meiner spirituellen Verbindung (Nisbah) war ich dermaßen verstört, dass ich - wenn sie in mir auftrat - meinen Kopf gegen die Steine der Moschee schlug. Beulen, so groß wie Walnüsse, schwollen auf meinem Kopf. Niemals, außer für mein natürliches Bedürfnis, habe ich die Moschee verlassen.
Zu einer gewissen Zeit waren die Stadttore von Herat für vierzig Tage geschlossen. Die Menschen begannen die Moscheen zu füllen, aber ich habe niemals jemanden nach dem Grund für dieses Gedränge – abgesehen vom Freitag, dem Versammlungstag – gefragt. Zu extrem war mein Desinteresse an der Auss enwelt. Es geschah aber, dass ich eine Diskussion über die Gründe des Verschliess ens der Stadttore bemerkte und da fragte ich danach. Sie schauten mich mit Erstaunen an und sagten: Bist du nicht hier in dieser Stadt?
Einmal, als ich mich in die Abgeschiedenheit (I’tikaaf) in der Mosche zurückgezogen hatte, kam drei Tage und Nächte kein Essen zu mir. Meine Kräfte waren durch den Hunger aufgebraucht. Um einige Bissen zu bekommen, beschloss ich hinaus zu gehen. Ich machte mit meinem linken Fuss einen Schritt hinaus aus der Mosche, doch noch bevor ich meinen rechten Fuss bewegte, dröhnte eine Eingebung (Ilhaam): „Verkaufst du unsere Gesellschaft für ein Stück Brot?“ Ich zog meinen Fuss zurück und schlug mir in mein Gesicht. Ich schlug so fest, dass die Auswirkung eine Woche lang sichtbar war.
Nachdem ich mich geschlagen hatte, ging ich in eine Ecke der Mosche und setzte mich. Ich versprach mir selber: „Selbst wenn ich vor Hunger sterbe, ich werde nicht hinausgehen um nach Nahrung zu suchen.“ Danach erfuhr ich einen Zustand in dem kein Verlangen nach Nahrung in mir verblieb. In diesem Moment kam ein Mann herein. Ohne ein Wort zu sagen platzierte er eine Reihe von Speisen vor mir. Er ging wieder ohne ein Wort zu sagen. Weil der Unbekannte kam und ging ohne sich mir aufzudrängen, waren die Speisen die er brachte um so mehr nach meinem Geschmack.
Der ehrwürdige Mawlaana fragte mich: „Weiss t du in welcher Verfassung so und so ist?“ Der Mann nach dem er fragte, war einer der von den entfernten Provinzen gekommen war um in Herat zu studieren. Nachdem er den Ehrwürdigen Mawlaana getroffen hatte, gab er aber seine Studien auf und wurde dem Schaikh ergeben. Alles im Stich lassend sass er in seinem Zimmer der Madrassah. Anstelle mit den Gefährten des Mawlaana Umgang zu haben, verbrachte er die meiste Zeit grübelnd und in Schweigen vertieft in einer Ecke und nichts konnte ihn aus dieser Vertiefung aufrütteln.
Als Antwort auf die Frage des ehrwürdigen Mawlaana sagte ich: „Ich verstehe nicht die Verfassung in der sich die Person befindet nach der du gefragt hast, doch bin ich der Meinung, er ist ständig in einem Zustand inneren Abmühens.“ Mawlaana sagte dann zu mir: „Geh an einem Tag zu ihm und erforsche die Natur seiner Verfassung. Verlasse ihn nicht bevor du gelernt hast, was es ist!“ Seinem Befehl folgend ging ich zur Madrassah und fand den Mann in seinem Zimmer. Nachdem ich ihn in dieser Verfassung eine gute Weile beobachte hatte, sagte ich: „Wie unterhältst du dich wenn du die ganze Zeit in diesem einsamen Schlupfwinkel sitzt ohne zu irgend jemandem Kontakt zu haben?“ Er antwortete: „Ich bin jemand der ständige Einsamkeit gewöhnt ist. Mir fehlt, was das Zusammensein mit anderen ausmacht, speziell wenn es um das Gesehenwerden unter den Gefährten des ehrwürdigen Mawlaana geht. Da ich mich ihrer nicht würdig erachte bleibe ich, für den Fall, dass ich ihnen eine Belästigung bin, weit entfernt von ihnen.“
Ich war nicht überzeugt von seiner Erklärung und so sagte ich: „Da muss es noch einen anderen Grund geben welcher dich von Gesellschaft fernhält. Sag mir was es ist!“ „Deine Eindringlichkeit ist sehr seltsam! Warum drängst du mich so?“ Ich sagte: „Ich mache einfach was mir der ehrwürdige Mawlaana aufgetragen hat zu tun. Er warnte mich, dich solange nicht zu verlassen, solange mir deine innere Verfassung unklar ist.“ Nachdem er verstanden hatte warum ich zu ihm gekommen war, änderte er sein Haltung und erklärte: „Ich erfuhr einen seltsamen Zustand (Haal), einen Zustand, der Erklärung und Interpretation trotzt. So viel kann ich dir sagen: Nach jedem Nachtgebet ('Ischaa‘), wenn ich in mein Zimmer komme und mich entsprechend der Prinzipien der Meister der Weisheit zur Arbeit bereit mache, hüllt mich ein endloses Meer aus Licht ein. Dieser Ozean umfängt mich von allen Seiten und derart verliere ich die Beziehung zu meinem gewöhnlichen Selbst und verweile in diesem Zustand bis zum Tagesanbruch. Während des Tages, bin ich dann wie steif gefroren, bewegungslos innerhalb der reinen Strahlung von diesem Licht. Das ist mein andauernder Zustand.“
Diese Erklärung ergriff mich zutiefst. Sie berührte meinen Geist und tauchte mich in Eifersucht und Neid. Als ich beim ehrwürdigen Mawlaana erschien, wurde ich mit keiner Frage konfrontiert. Er fragte mich nicht: „Hast du die Natur seines Zustandes begriffen?“ Ich verstand, sein Grund war, mir einen Unterricht zu geben, mir zu zeigen, was Leute durch seine Schulung erfahren.