In
Deutschland wenden wir jeden Tag die Scharia an. Der Islamwissenschaftler und Jurist Mathias Rohe über die Vereinbarkeit von
deutschem Recht und muslimischem Glauben.
Wie verträgt sich der Islam mit deutschem Recht? Seit Muslime hier zu Lande
schächten dürfen, wird diese Frage sehr kontrovers debattiert. Mathias Rohe,
Islamwissenschaftler, Richter am OLG und Professor für Bürgerliches und
Internationales Recht an der Universität Erlangen, beschäftigt sich seit
Jahren systematisch mit diesem Thema. Mit ihm sprachen in Erlangen FR-Mitarbeiter
Hartmut Meesmann und FR-Reporterin Katharina Sperber.
Frankfurter Rundschau: Das Bundesverfassungsgericht hat das Schächten als
religiöses Gebot für Muslime anerkannt. Die Reaktionen darauf sind anhaltend
heftig. Überrascht Sie das?
Mathias Rohe: Nein. Denn es geht dabei nicht eigentlich um die Frage des Schächtens,
nimmt man einmal die Tierschützer aus. Die Frage des Schlachtens ohne Betäubung
hat vielmehr Symbolcharakter. Viele Menschen haben Angst, dass der Islam zu
einflussreich werden könnte, im Sinne von: Heute ist es das Schächten, morgen
der Ruf des Muezzin und übermorgen das Handabhacken.
Frankfurter Rundschau: Aber das sind ja Realitäten in muslimischen Ländern.
Mathias Rohe: Unser Recht gilt uneingeschränkt, jeder hat sich an die
Rechtsordnung zu halten. Deshalb brauchen wir das Handabhacken nicht zu
diskutieren. Das Recht schafft allerdings in der Verfassung Religionsfreiheit,
das heisst unter dem breiten Dach des Rechts gibt es religiöse Entfaltungsmöglichkeiten.
Die Letztherrschaft, insbesondere des Verfassungsrechts, aber ist nicht
anzutasten. Selbst dann nicht, wenn wir eine muslimische Mehrheit hätten. Im
Grundgesetz, Artikel 79, Absatz 3, steht, dass die fundamentalen Werte - Achtung
der Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaatsprinzip, Sozialstaatsprinzip - einer
so genannten Ewigkeitsgarantie unterliegen.
Frankfurter Rundschau: Schadet das Urteil der Integration der Muslime?
Mathias Rohe: Im Gegenteil. Integration heisst einerseits, wir können
verlangen, dass Menschen, die zu uns kommen und hier leben, sich der
Rechtsordnung unterstellen, die für uns alle gilt. Das heisst aber nicht, dass
sie ihre religiösen und kulturellen Eigenheiten aufgeben müssen. Unsere
Rechtsordnung zeichnet sich ja gerade durch einen gross
en inneren Pluralismus in
solchen Fragen aus. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt: Es kommt
nicht darauf an, was irgendwelche Autoritäten in der Islamischen Welt zum Schächten
sagen. Entscheidend ist vielmehr, ob eine muslimische Gruppe hier zu Lande der
Überzeugung ist, sie müsse aus religiösen Gründen Tiere ohne Betäubung
schlachten, weil es die Scharia, das religiöse Gesetzbuch, so vorschreibt. Das
heisst: Man koppelt die Muslime in Deutschland ab von einer Art Fremdbestimmung
von aussen und gibt ihnen damit die Möglichkeit der religiösen
Selbstbestimmung.
Frankfurter Rundschau: Es wird nicht unterschieden zwischen zwingenden und
weniger zwingenden religiösen Pflichten?
Mathias Rohe: Die Beantwortung dieser entscheidenden Frage überlassen wir
den Muslimen selbst. Wenn sie plausibel machen können, was sie als religiöses
Gebot verstehen, dann ist das zunächst zu akzeptieren.
Frankfurter Rundschau: Welche religiösen Gebote wären nicht akzeptabel?
Mathias Rohe: Zum Beispiel die Körperstrafen, die in der Scharia vorgesehen
sind und die eher mittelalterlichen Strafvorstellungen entsprechen. Aber ich
habe noch keinen Muslim getroffen, der ernsthaft darüber nachdenken würde,
solche Strafen hier zu Lande einzuführen. Religionsfreiheit heisst nicht, dass
man in die Rechte anderer eingreifen darf, und das Strafrecht ist eine nationale
Angelegenheit.
Frankfurter Rundschau: Muss man nicht unterscheiden zwischen religiösen
Geboten und kulturellen Gebräuchen?
Mathias Rohe: Nur die Religion geniesst die Freiheit nach Artikel 4 des
Grundgesetzes. Kulturelle Gebräuche fallen lediglich unter den Schutz der
freien Entfaltung der Persönlichkeit.
Frankfurter Rundschau: Erklären Sie uns das am Beispiel des Kopftuchs.
Mathias Rohe: Nach dem Selbstverständnis vieler Muslime ist das Tragen eines
Kopftuchs ein religiöses Gebot. Aber es ist zugleich ein kulturelles Phänomen.
Sieht man sich die Bekleidungsvorschriften im Koran an, kann man sich durchaus
darüber streiten, was unter einer züchtigen Bekleidung zu verstehen ist.
Faktisch tragen muslimische Frauen vom Kopftuch über den Schleier bis zur
Burkha verschiedene Formen der Bedeckung. Es gibt eine religiöse Verankerung
des Gebots, aber die konkrete Umsetzung bleibt den Menschen überlassen.
Kritische Auslegungsrichtungen fragen: Handelt es sich hier wirklich um ein
Gebot, das sich an alle Menschen in allen Ländern zu allen Zeiten richtet? Müssen
sich also Eskimofrauen, wenn sie denn Muslime wären, genauso kleiden wie Frauen
im zentralafrikanischen Busch?
Frankfurter Rundschau: Können Juristen hier Ordnung schaffen?
Mathias Rohe: Wir sollten uns eher um einen Konsens im Gespräch bemühen und
fragen: Was macht uns Angst, wenn muslimische Frauen ein Kopftuch tragen? Wenn
wir aber urteilen müssen, dann gilt wiederum: Wenn Muslime glaubhaft sagen, das
Tragen des Kopftuchs sei ein religiöses Gebot, dann müssen wir Juristen das
akzeptieren.
Frankfurter Rundschau: Schüler haben aber das Recht, in der Schule von
religiösen Symbolen nicht belästigt zu werden.
Mathias Rohe: Wir stecken da in einem Dilemma, das kaum zu lösen ist: Es
steht die positive gegen die negative Religionsfreiheit, und umgekehrt. Nun sind
die Verfassungsjuristen aber einhellig der Meinung, dass aus der notwendigen
Neutralität des Staates nicht abgeleitet werden kann, dass die Religionsausübung
in die Hinterzimmer zu verbannen sei. Religion darf auch im öffentlichen Raum
stattfinden. Deswegen müssen die eben wegschauen, die religiöse Symbole nicht
sehen wollen. Auf der anderen Seite verstehe ich die Bedenken von
Kultusministerien, wenn sie im Blick auf kopftuchtragende Lehrerinnen sagen:
Lehrerinnen sind prägende Vorbilder und könnten unkritische kleine Kinder in
eine bestimmte Richtung lenken. Mich stört auch, wenn Musliminnen erklären,
das Verbot des Kopftuchs sei blanker Rassismus. Viel hängt auch davon ab, wie
man einen Lehrer, einen Beamten, einen Richter sieht: Ist er nur eine Marionette
des Staates, so dass man sagen muss: Der Staat zieht sich ein Kopftuch auf, und
das geht nicht. Oder muss man nicht sagen: Auch die kopftuchtragende Lehrerin
ist in erster Linie ein Mensch. Und solange sie nicht zu indoktrinieren versucht,
ist das religiöse Symbol zu tolerieren, so wie etwa in England, wo es
kopftuchbewehrte Polizistinnen gibt.
Frankfurter Rundschau: Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel fürchtet, dass der
zivilisatorische Konsens bei uns in Frage gestellt wird.
Mathias Rohe: Wir stehen heute vor einer historisch neuen Situation: Ein gross
er
Teil der Muslime will freiwillig auss
erhalb der Islamischen Welt leben und sich
da auf Dauer einrichten. Sie stehen somit vor der Frage, wie sie sich
integrieren und ihren Glauben leben können im Einklang mit dem Grundgesetz und
den deutschen Gesetzen. Sie müssen einen Islam ausformen, der keine Ängste
mehr bei der deutschen Mehrheitsbevölkerung auslöst.
Frankfurter Rundschau: Gehen wir ins Detail. Der Islam bevorzugt den Mann im
Scheidungsrecht und schränkt die Freiheiten der Frauen ein. Wie ist hier
rechtlich zu verfahren?
Mathias Rohe: Da kennt das Recht sehr differenzierte Lösungen. Es gibt die
Materie des internationalen Privatrechts in grenzüberschreitenden Rechtsfällen,
wo beispielsweise Ausländer beteiligt sind. Wir wenden hier in Deutschland
jeden Tag die Scharia an. Wenn Jordanier in Deutschland heiraten, dann
verheiraten wir sie nach jordanischem Recht. Das gilt grundsätzlich auch im
Scheidungsfall. Die Menschen haben in diesen privaten Verhältnissen
Entscheidungsfreiheit. Erst wenn diese Anwendung unerträglich würden, dann käme
das deutsche Recht zur Geltung.
Frankfurter Rundschau: Was wäre unerträglich?
Mathias Rohe: Die einseitige Verstossung einer Ehefrau durch den Ehemann,
ohne dass die beiden getrennt gelebt hätten. Das würden wir nicht akzeptieren,
weil ein solches Verhalten unserem Rechtsverständnis widerspräche. Wir
akzeptieren es aber wohl wieder, wenn eine Zeit der Trennung vorausgegangen war.
Frankfurter Rundschau: Und wie sieht es mit der Polygamie aus?
Mathias Rohe: Wenn ein Mann einreist, der in seinem Heimatland nach den
Islamischen Vorschriften rechtmässig mehrere Ehefrauen geheiratet hat,
akzeptieren wir diese polygame Ehe auch hier. Es gibt sogar im Sozialgesetzbuch
entsprechende Vorschriften, zum Beispiel wenn es um Rentenanwartschaften geht. Würden
wir das nicht tun, würden wir den Frauen Steine statt Brot geben. Denn sie
haben sich ja darauf eingestellt, was ihre Versorgung angeht.
Frankfurter Rundschau: Die Scharia schreibt vor, Glaubensabtrünnige mit dem
Tod zu bestrafen . . .
Mathias Rohe: Das ist ein klarer Fall von grobem Menschenrechtsverstoss. Die
meisten modernen Islamischen Juristen deuten dieses Delikt inzwischen auch
historisch-kritisch im Sinne der Strafbarkeit "weltlichen" Hochverrats
gegen den Staat. Im Koran steht nichts von Todesstrafe, allerdings heisst es in
den Überlieferungen des Propheten, den Hadiithen, Apostaten müssten eigentlich
getötet werden. Gelehrte der Kairoer Al-Azhar-Universität sagen nun, diese Überlieferung
stünde auf so schwachen Füssen, dass man so eine gravierende Strafe nicht
darauf stützen könne. Es sind nur einige wenige Islamische Länder, die
Apostaten überhaupt noch belangen, und diese Regime zeichnen sich insgesamt
nicht durch Liberalität aus. Aber es ist ein rechtskulturelles Problem, das in
Deutschland Furcht auslöst. Deswegen wünsche ich mir sehr, dass die Muslime in
Europa die Scharia auf solch heikle Punkte hin untersuchen und sich auf eine
Interpretation verständigen, die mit unserem Grundgesetz und den europäischen
Menschenrechtsgrundsätzen vereinbar sind.
Frankfurter Rundschau: Sollte die Rechtspolitik die Ausbildung eines europäischen
Islam institutionell fördern?
Mathias Rohe: Das sollte sie, soweit sie kann und darf. Die Frage ist jedoch
wie. Will man eine religiös orientierte Sonderrechtsordnung etablieren? Dafür
spricht, dass sich Muslime damit besonders akzeptiert fühlen. Dagegen spricht,
dass damit Illusionen gefördert werden, Muslime könnten sich von der allgemein
gültigen Rechtsordnung verabschieden. Das darf nicht sein. Muslime müssen
zuerst einmal erkennen, dass es im Wesentlichen an ihnen selbst liegt, was sie
aus ihrer Organisationsfreiheit, die hier zu Lande herrscht, machen. Im Rahmen
der Religionsfreiheit können die Muslime unter dem geltenden Recht sehr vieles
gestalten: beispielsweise Verträge ohne Zinsen schliess
en oder
Familienrechtsverhältnisse ein Stück weit gestalten. Sie können auch
Schlichtungsinstanzen bilden. Der Zentralrat der Muslime hat vor kurzem einen
wichtigen Schritt in diese Richtung unternommen. Er hat eine Grundsatzerklärung
mit einem deutlichen und uneingeschränkten Bekenntnis zur
freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes vorgelegt, einschliess
lich
der Freiheit zum Glaubenswechsel.
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