Medizin in der globalisierten Welt
Jenseits einer blossen Kritik an der „Schulmedizin“ - Muslime und die
Unani-Medizin - Von Muhammad Kassem |
http://www.islamische-zeitung.de
Ursprünglich als Vortrag konzipiert 11.10.2006
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Literatur:
Medicine of the Prophet | Verlag
Daarussalam | isbn 9960-892-91-3 | Heilkunst der Suufis | Bauer Verlag | isbn 376 26 02832 | auch in englisch
Der Autor des Textes1 hat in England Kräutermedizin und Akupunktur
studiert, bevor er nach Pakistan ging, um dort Unani-Medizin [sprich:
Junani] zu erlernen. Ebenso ist er Direktor der Schule für natürliche
Harmonie in Kuala Lumpur. In den letzen 22 Jahren hat Dr. Kassem
Naturheilkunde studiert und praktiziert und lange Reisen nach Spanien,
dem Subkontinent, Malaysia und in die Vereinigten Staaten unternommen.
Er lebt und arbeitet seit über 10 Jahren in den schottischen Highlands.
Im nächsten Jahr veröffentlicht er ein Handbuch über Kräutermedizin.
Das vorliegende Thema, die Unani-Medizin, liegt mir sehr am Herzen. In
der Beschäftigung damit kann ich nicht umhinkommen, Kommentare zum
obigen Thema abzugeben. Viele Menschen in diesem Land - wie insgesamt im
Westen - wenden sich seit Jahren alternativen Heilmethoden zu. Wären sie
mit der „Schulmedizin“ vollkommen zufrieden, dann würde es dieses
Interesse nicht geben. Dies gesagt, dürfen wir nicht vergessen, dass es
in der modernen Medizin viele nützliche Aspekte gibt. Eine reine Anti-Haltung
kann daher gar nicht eingenommen werden. Anstatt zu kritisieren, ist es
wichtig, einen anderen Weg aufzuzeigen. Das Wort „Unani“ ist das
arabische Wort für „griechisch“. Diese Medizin hat eine kontinuierliche
Geschichte von den Griechen bis heute. Wer im Subkontinent geboren ist,
dürfte schon einmal ihre Begegnung gemacht haben. Dies ist die einzige
Region, in der Ärzte und Kliniken diese Form der Medizin heute noch
konzentriert anwenden. Ein Hakim oder eine Tabiba (Bez. für Frauen)
praktizieren eine Medizin, die nach westlichen Standards als
ganzheitlich bezeichnet werden würde. Darin werden alle Aspekte der
persönlichen Gesundheit umfasst - von der Geburt bis zum Tod, physische
Verletzungen, medizinische Krankheiten und auch chirurgische Eingriffe.
Dies ist ein sehr umfassendes Gebiet und betrifft nicht nur blosse
Kräutermedizin.
Es handelt sich nicht um „Islamische“ Medizin als solche, denn die
muslimische Eröffnung von Byzanz und Ägypten erlaubte die Übernahme des
medizinischen Wissens der Griechen durch die Muslime. Anstatt der
Verbrennung von Büchern entschieden sie sich, diese Medizin zu studieren
und sie zu übernehmen. Bedeutende Griechen auf diesem Gebiet waren
Hippokrates (unabhängig davon, ob er historisch existierte), Galen,
Pythagoras und Platon - viele Philosophen der griechischen Welt waren
Ärzte. Diese Tradition fiel in die Hände der Muslime, und sie
übersetzten wichtige Bücher. Viele lateinische Titel existieren nur im
Westen, weil sie aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt wurden.
Diese Bücher bildeten die Grundlagen dessen, was wir als moderne Medizin
bezeichnen. Die Unani-Medizin spannt sich wie ein Faden, der von den
Griechen über die Muslime bis heute verfolgt werden kann. Und Indien und
Pakistan sind die Regionen, in der sie noch konzentriert anzutreffen ist.
Ein anderes Wort, das häufig für Unani-Medizin verwendet wird, ist Hikma.
Es ist die Verbindung des Wortes für Weisheit und für Urteil. So benutzt
ein Hakim Weisheit, oder Wissen vom Universum, und er wendet
Unterscheidung an. Mit meinem Lehrer fand ich einen genauen Begriff:
Weisheit in Aktion. Die Unani-Medizin ist die Anwendung von Weisheit in
der Welt. Was ich über die Jahre meiner Praxis gelernt habe, war, dass
die Leute je mehr leiden, um so weniger Weisheit sie haben. Ein Teil des
Leidens kann erleichtert werden, wenn man sich der Weisheit, die uns
umgibt, öffnet.
Ich habe drei Jahre in Karachi bei meinem Lehrer verbracht. Auch wenn
wir vieles studiert haben, die Anwendung von Kräutern lernten, die
Krankheiten und ihre Behandlung, so war für mich am lehrreichsten, die
Patienten kommen und gehen zu sehen. Einmal kam eine Frau wegen ihres
Ehemanns, der an einer Krankheit litt. Mein Lehrer sagte ihr: „Da ich
den Patienten nicht sehen kann, ist es das beste, wenn Sie ein Lamm
schlachten und das Fleisch unter den Armen verteilen.“ Sie ging weg und
tat wie geheissen. Nach einem Tag rief sie wieder an und sagte, ihrem
Mann, der an einer ernsthaften Erkrankung litt, ginge es immer noch
nicht besser. Mein Lehrer wies sie wieder an: „Schlachte noch eins.“
Dies ging so weiter, bis sie insgesamt fünf Lämmer geschlachtet und ihr
Fleisch gespendet hatte, bis sie mit meinem Lehrer die Geduld verlor.
Sie fragte ihn, ob er versuche, sie in den Ruin zu treiben. Vielleicht
sollte sie doch eher einen Spezialisten besuchen. „Wenn sie wollen, dass
es Ihrem Ehemann besser geht, schlachten Sie ein weiteres“, war die
Anweisung meines Lehrers, der die Frau unwillig nachkam. Dem Mann ging
es danach tatsächlich besser.
Diese Art von Weisheit, die wir mit unserer Praxis der Unani-Medizin
anstreben, ist eine Art des In-der-Welt-seins und eine Hilfe für die
Leute. Es geht nicht nur um den Körper, es geht um das Universum. Ein
Hakim benötigt ein umfassendes Verständnis von der Natur. Ein wichtiger
Aspekt des Daseins als Hakim ist ein Bewusstsein um die Schönheit und
die Macht von Allah
, dem Erhabenen, und eine Verständnis davon um uns
herum. Dies ist das Schlüsselelement für die Praxis dieser Form von
Medizin. Tibb [Medizin] ist nicht nur die Wissenschaft vom Körper,
sondern auch von der Schöpfung als Ganzem.
Man studiert in der Unani-Medizin den Körper - es gibt Anatomie,
Physiologie, das Verständnis nicht nur von den groben Elementen des
Körpers, sondern auch vom Verstand, dem Herzen, der Seele und der ganzen
Schwierigkeit des menschlichen Daseins. Wir studieren dies in
verschiedenen Zuständen: in Gesundheit und in Krankheit. Interessant
dabei ist, dass Ibn Sina, der die Grundlagen der Unani-Medizin mit
formulierte, einen dritten Zustand beschrieb: die abnehmende Gesundheit.
Die meisten von uns sind, wenn sie das Alter von 30 erreichen, in diesem
Zustand. Der Hakim reflektiert die Gesundheit eines Patienten und
verwendet dafür verschiedene Mittel. Wenn er einen Menschen sieht,
erkennt er nicht nur Krankheit, sondern auch, an welchem Punkt er sich
von seiner Gesundheit entfernte. In der modernen Medizin interessieren
sich Ärzte nur für einen Menschen, wenn dieser krank ist. Wenn der Arzt
nichts finden kann und der Patient weiter über Beschwerden klagt, was
geschieht dann? Er beginnt zu vermuten, dass der Patient psychische
Problem haben könnte oder Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte. Sehr
oft enden solche Fälle bei Anti-Depressiva. Ich kann nicht zählen, wie
viele Patienten jede Woche in meine Klinik kommen und zu mir sagen: „Es
geht mir nicht gut, mein Arzt hat nichts gefunden und mir stattdessen
Anti-Depressiva verschrieben.“
Ein Hakim wird den Menschen als Ganzes sehen - körperlich, mental,
spirituell und emotional. Er sieht den Menschen auch im Rahmen seines
Daseins in der Schöpfung. Allah
sagt im Qur’an, dass es Zeichen in uns
und auf dem Horizont gibt, wenn wir nur wüssten, wo wir schauen müssten.
Es gibt Zeichen im Körper, nach den man Ausschau halten muss. Manchmal
liegt die Ursache für eine Krankheit nicht in einer Infektion oder in
der Schwäche eines bestimmten Organs, sondern in äusseren Faktoren. Dies
können Menschen sein, die bei dem Kranken Stress verursachen. Es reicht
nicht, den Kranken zu behandeln, derartige Probleme müssen gleichermassen
gelöst werden.
Neben dem Studium der verschiedenen Zustände bedeutet die Unani-Medizin
auch das Erlernen der Wege, wie Gesundheit zurückerlangt werden kann.
Der Weg, die Gesundheit wiederzuerlangen, liegt in der Feststellung, was
der jeweiligen Person fehlt. All dies hängt von der Perspektive das
Hakim ab. Solange es keine korrekte Sichtweise des Menschen gibt,
solange werden fundamentale Fehler gemacht. Eine der Fehldeutungen der
modernen Medizin ist, dass der Mensch und sein Körper eine biologische
Maschine seien, bei der man Einzelteile austauschen beziehungsweise sie
mechanisch behandeln könne. Man sieht dies stark im Aufbau moderner
Krankenhäuser, bei denen man hunderte von Metern zwischen der
Psychiatrie, der Orthopädie oder Frauenheilkunde hin- und herlaufen muss.
Sie sind alle getrennt und dies entspricht exakt der Art und Weise, wie
der menschliche Körper gesehen wird. Ein Neurologe wird einen Teil
unseres Körpers zu reparieren versuchen, während eigentlich ein anderer
Teil krank ist und sich das Symptom nur im Nervensystem äussert. Die
nicht-ganzheitliche Sichtweise bildet die Grundlage für vieles von der
Unzufriedenheit, die die Menschen heute mit der modernen Medizin haben.
Ebenso müssen wir verstehen, dass Krankheit und Gesundheit keine echten
Gegensätze sind. Sie sind in gewisser Hinsicht das gleiche.
Augenblicklich habe ich eine Erkältung, bei der die Schleimhäute
angeschwollen sind, meine Nase läuft, die Augen brennen und ich husten
muss. Was will mir mein Körper sagen? Er sagt mir, dass er mich von
etwas befreien will. Ich bin in einem Zustand der Abstossung. Wäre es
eine gute Idee, dass ich den Prozess beende, mit dem mein Körper etwas
ausscheiden will, und Medikamente einnehme, die die Entzündung in meiner
Nase und in meiner Brust eindämmen? Es ist keine gute Idee, es sei denn,
man bekommt hohes Fieber oder steht vor der Gefahr, an einer
Lungenentzündung zu sterben. In dem Fall erkenne ich die Nützlichkeit
von Antibiotika an. Wenn ich ein vernünftiger Patient bin, stelle ich
mir die Frage, wie ich in diesen Zustand gekommen bin. Wir müssen im
Körper des Patienten ein Gleichgewicht anregen. Ein entscheidendes
Mittel dafür ist die richtige Ernährung. Seit jeher sagen die Hakims den
Menschen, was sie essen und was sie nicht essen sollen. Das kann für
Patienten sehr irritierend sein. Um gesund und ausgeglichen zu sein,
müssen wir die richtige Nahrung zu uns nehmen - entsprechend des Ortes,
an dem wir uns befinden und entsprechend der jeweiligen Jahreszeit. In
der Unani-Medizin werden Lebensmittel und Kräuter eingestuft und
erhalten im gewissen Sinne ein „medizinisches Etikett“. Dies basiert auf
einer sehr komplexen Theorie von Galen. Viele der Gemüse, Früchte und
Kräuter, die jeweils auf dem Wochenmarkt erhältlich sind, sollten wir
auch essen - im Gegensatz zu Lebensmitteln, die von der anderen Seite
der Welt stammen, wo gerade eine ganz andere Jahreszeit herrscht. Wenn
man viel von diesen importierten Dingen isst, endet man mit einer
Erkältung wie ich. Die Ernährung ist eines jener Gebiete, auf dem wir
den Zusammenhang zwischen dem Menschen und seiner Umwelt erkennen können.
Es ist Teil der Barmherzigkeit Allahs, dass er uns pflanzliche
Lebensmittel zur Verfügung stellt, die zur richtigen Zeit des Jahres von
uns verzehrt werden sollten. Früher hat man - es sei denn, es gab
bestimmte Methoden des Haltbarmachens - die Gemüse und Früchte nur zu
ihren jeweiligen Zeit gegessen.
Als nächstes muss die individuelle Natur in Betracht gezogen werden -
sind die Patienten männlich oder weiblich; sind sie jung oder alt; sind
sie im Grundcharakter „kalt“ oder „heiss“ und „trocken“ oder „feucht“.
Augenblicklich bin ich, mit meiner Erkältung und meinen geschwollenen
Schleimhäuten, die Substanzen absondern, „feucht“ in meiner Natur.
Gleichzeitig bin ich auch „heiss“, was in der chinesischen Medizin als „feuchte
Hitze“ bezeichnet wird. Ich zeige alle Symptome des Leidens von zu viel
„Hitze“ und zu viel „Feuchte“. Die logische Art und Weise, dem
entgegenzugehen, wäre es, Dinge zu mir zu nehmen, die leicht trocknend
und leicht kühlend wirkend, aber nicht zu sehr kühlend. Ich nehme in so
einem Fall keinen Orangensaft, sondern Wasser zu mir, weil Orangen in
einem heissen Klima wachsen. Das Wesen der Orangen ist, dass sie kalt und
feucht sind, denn sie wachsen als Reaktion in einer Umgebung, die heiss
und trocken ist. Wenn ich in Sevilla bin, dann ist es schön, frischen
Orangensaft zu trinken. Bin ich aber in Schottland, welches feucht-kalt
ist, wäre es widersinnig, etwas zu trinken, das die gleichen
Eigenschaften besitzt. Ich brauche jedoch etwas, um das feucht-kalte
auszugleichen, welches mich umgibt. Die Form der Medizin funktioniert
durch den Gebrauch des Gegenteiligen und den Gebrauch des Wissens von
der Schöpfung, um dasjenige zu balancieren, was im menschlichen Körper
vorgeht. Auf eine gewisse Art und Weise ist Krankheit kein Feind,
sondern ein Hinweis auf ein bestehendes Ungleichgewicht. Was wir im
Kampf mit Krankheit versuchen, ist, sie zu verstehen und ihr so
gewissermassen den Teppich unter den Füssen wegzuziehen. Das Fieber taucht
auf, erfüllt seinen Zweck und geht wieder. Aber manche Menschen sterben
daran, denn ihr Körper kann diese Menge an Hitze nicht ertragen. Man
würden in so einem Fall das Fieber senken, ohne dass die Grundannahme
falsch wäre. Insbesondere Kinder erhalten bei ersten Anzeichen von
Temperatur fiebersenkende Mittel in gross
en Mengen durch ihre Mütter. Es
braucht eine starke und selbstbewusste Mutter, ihr Kind durch das Fieber
gehen zu lassen - natürlich mit der entsprechenden Sorge und Betreuung,
damit es nicht zu hoch und lebensbedrohlich wird. Indem sie das tut, sät
sie den Samen für Gesundheit, anstatt dem Kind dauernd Antibiotika und
fiebersenkende Mittel zu geben.
Die Kinder können so niemals Hitze ausdrücken. Bei einer Unterdrückung
des Fiebers entwickeln sie als Erwachsene oft moderne Erkrankungen wie
das chronische Müdigkeitssyndrom. Wenn man durch die Anamnese vieler
Patienten geht, fällt auf, dass sie in ihrer Kindheit unter
Halsentzündungen, Erkältungen oder Mittelohrentzündungen litten, für die
sie massenhaft Antibiotika oder Paracetamol verschrieben bekamen. Später,
wenn sie als Lehrer oder Anwälte eigentlich nicht krank werden sollten,
bekommen sie komische Krankheiten.
Von diesem Verständnis des menschlichen Ortes im Universum und der
Bedeutung der Ernährung ausgehend, können wir über die Bedingungen des
menschlichen Wesens sprechen. Genauso wie über die Eigenschaften lässt
sich sagen, dass manche Menschen Neigungen zu bestimmten Krankheiten,
zur Ernährung und zum Ort, an dem sie leben, haben. In Schottland, wo es
feucht-kalt ist, leiden viele Menschen an Gelenkproblemen und viele
meiner Patienten können mir sagen, wann es regnen wird, denn ihre
Gelenke schmerzen. Es ist ein schwieriger Kampf, aber beinahe jeder
Patient, der daran leidet, scheint Orangensaft (den viele gerne trinken,
weil sie glauben, er sei wegen seines Vitamin C-Gehalts sehr gesund für
sie), Milch und Käse in gross
en Mengen zu lieben. Diese Nahrungsmittel
sind feucht-kalt und der Patient hat Schmerzen in den Gelenken, die
exakt von diesen Eigenschaften hervorgerufen werden. Es bereitet
Kopfschmerzen, die Patienten täglich dazu zu kriegen, ihre Diät zu
ändern. Wir müssen also Wege finden, sie darin zu erziehen (zu trinken,
zu essen und zu agieren), damit dies einen Gegenpol zu ihrer
grundlegenden Natur - hier feucht-kalt - bildet.
Hier kommt wieder der Begriff der Hikma ins Spiel. Denn die Patienten
lernen eben auch etwas von Weisheit über ihren Körper und ihre Umwelt,
in der sie leben. Im Qur’an und in der Sunna (der Praxis) des Propheten
gibt es viele Zeichen, dass die Unani-Medizin einen guten Weg beschreibt,
wenn es Daarum geht, die eigene Gesundheit zu erhalten. |